Diagnose zur Daemmerung
Bewaffneten nicht provozieren wollte. »Das hier ist neutrales Gebiet!«, schrie Dr. Tovar weiter.
Keiner der Männer rührte sich.
Ich schloss die Augen und erwartete, jeden Moment Schüsse zu hören, ohne zu wissen, wen oder was sie treffen würden. Laut hallte das Gebet der Großmutter durch den Raum: » Santa Muerte, escucha la oración de tu pobre hijo.«
Überrascht riss ich die Augen wieder auf und drehte mich zu ihr um. Die Bewaffneten waren näher gekommen. Nun konnte ich ihre Gesichter erkennen, und den Ansatz einer merkwürdigen Tätowierung, die beide am Hals trugen: drei Kreuze.
»Ich sagte: Meine Klinik ist neutrales Gebiet!«, wiederholte Tovar wütend.
»Deine Klinik, deine Leute. Erst mal«, sagte der Neuankömmling, der dichter bei uns stand. »Aber Montalvo hat noch eine Rechnung mit ihm offen.« Dabei zeigte er mit der Waffe auf den blutenden Mann auf dem Boden.
Instinktiv beugte ich mich über ihn, um den Verletzten zu schützen – nur um festzustellen, dass Dr. Tovar mir zuvorgekommen war. Unsere Schultern berührten sich. Wenn sie unbedingt auf den Mann feuern wollten, würden sie sich mit einem Schuss ins Bein begnügen müssen; oder einen von uns treffen. Der Tweed des Jacketts rieb über den Teil meines Oberarms, der nicht vom Ärmel bedeckt war.
»Der Siebzehnte rückt näher, Doktor. Haben Sie schon den Zehnten gezahlt?«, fragte der Bewaffnete und deutete provozierend mit dem Kinn auf Tovar.
»Ihr kriegt ihn nicht«, stellte Dr. Tovar klar.
»Das ist keine Antwort.«
»Meine Antwort lautet: Sagt Montalvo, dass er mich am Arsch lecken kann.« Dr. Tovars Stimme war erschreckend ruhig.
Der Bewaffnete wollte sich auf ihn stürzen, aber sein Freund streckte eine Hand aus und hielt ihn zurück. Mit Mienen, die kalt genug waren, um einem Vampir Ehre zu machen, überlegten sie, ob sie Dr. Tovar und mich nun erschießen sollten oder nicht.
Schließlich ließ der zweite Bewaffnete seinen Kumpan los. »Lass uns gehen, irgendwann muss er ja rauskommen«, sagte er.
»Bald werden wir auch dich abknallen wie einen räudigen Köter«, drohte der Erste mit Blick auf Dr. Tovar, dann ließ er die Waffe sinken. Und damit zogen sie sich zurück – die Eingangstür fiel hinter ihnen zu und nahm Sonne samt Schatten mit sich.
Die Großmutter war nun vollkommen außer sich und schrie: » ¡Yo rezo y rezo y que siguen siendo los mismos!« Dann stand sie auf und verließ den Wartebereich. Offenbar widerten wir sie alle gleichermaßen an.
Am liebsten wäre ich ihr hinterhergelaufen und hätte sie gefragt, was sie damit meine und woher sie ihr Wissen über Santa Muerte habe – schließlich hatte ich damals, als ich im Dezember geächtet worden war, keine Gelegenheit gehabt, sonderlich viele Fragen zu stellen. Stattdessen half ich Dr. Tovar. Schnell sah ich zu ihm rüber, und er nickte knapp. »Richten wir ihn auf und bringen ihn nach hinten.«
Gemeinsam mit dem Mann, der ihn hergebracht hatte, gelang uns das auch. Eine der Rezeptionistinnen hielt uns die Tür auf.
Kapitel 5
Nachdem wir dem Fremden das Hemd ausgezogen hatten, sah ich, dass der Mann mit düsteren Tattoos bedeckt war, die aussahen, als wären sie im Gefängnis entstanden. Er redete wütend auf seinen Freund ein, allerdings hauptsächlich auf Spanisch, sodass es nicht sonderlich erhellend für mich war. Und Tovar ignorierte all die vielsagenden Blicke, die ich ihm zuwarf.
Was ich ihm mit den Augen sagen wollte, war Folgendes: Werden Sie diesen Vorfall melden? Ich wusste, dass alle Schusswunden, die wir in Krankenhäusern behandelten, der Polizei gemeldet werden mussten. Außerdem mussten wir die Kugeln aufbewahren. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für diese Frage, schon gar nicht vor dem Patienten, außerdem arbeitete ich hier schließlich nicht.
»Warum gehen Sie nicht schon mal in mein Büro, Miss Spence«, schlug Tovar vor, als wir so gut wie fertig waren. Ich wollte protestieren, begriff aber dieses eine Mal, dass es vielleicht besser wäre, nichts dagegen zu sagen. Also streifte ich die Handschuhe ab, wusch mich und ging hinaus.
Weil ich annahm, dass Dr. Tovar eine Weile brauchen würde, um sich sauber zu machen, beschloss ich, zumindest nachzusehen, ob die alte Frau zurückgekommen war. Ich ging den Flur hinunter und starrte durch die Drahtglasscheibe in den Wartebereich hinaus, wo aber nur der Hausmeister zu sehen war, der das Blut vom Boden aufwischte.
Die Tür war nicht verschlossen, also ging ich hinaus,
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