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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brasme
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der Himmel war blau, und es war nicht sehr kalt. Sie legte sich ins Gras, und ich legte mich neben sie. Die Sonne brannte uns auf die Lider, obwohl der Winter noch nicht vorüber war. Wir atmeten die Luft in vollen Zügen ein, und ich spürte, wie die Gerüche von Erde und Tau sich unter meinen zitternden Nasenflügeln vermischten. Wir lachten, bis wir keine Luft mehr bekamen. Ich höre noch ihre Stimme, sehe noch ihr von struppigem Haar gerahmtes Gesicht und ihren Blick, der sich in der Sonne verlor. Ich weiß nicht, ob mir vor Lachen die Tränen kamen oder ob ich weinte, weil mich das Glück überwältigte. Seit meiner Kindheit hatte ich mich nicht mehr so gefühlt. Vielleicht war es sogar das erste Mal.
    Am Abend legten wir uns auf die Matratze, die ihr als Bett diente. Die Fensterläden ihres Zimmers riffelten das Dunkel mit schmalen Streifen grauen Lichts. Um uns herrschte eine seltsame Stille; wir lauschten auf die Geräusche von draußen, die letzten Autos, die über den Boulevard brausten. Die Nacht senkte sich auf die Welt. Alles erschien unendlich friedlich. Ich spürte, wie die Müdigkeit über mich kaum, und unser Gemurmel verlor sich in der tiefen und unergründlichen Stille. Wir redeten lange, vor allem sie. Ich lauschte ihrer immer schwächer werdenden Stimme, die durch die unsägliche Ruhe der Stunden drang. Und zwar so aufmerksam, dass ich Sarah nach dieser Nacht so gut zu kennen glaubte, als hätte ich mein Leben mit ihr verbracht.
    Der Morgen kam. Ich öffnete die Augen: Sie schlief noch, dicht neben mir. Ihr langes Haar lag neben meinem Gesicht, sein Geruch betörte mich. Sie erwachte eine Stunde nach mir: Ich hatte ihr die ganze Zeit beim Schlafen zugesehen. Wir frühstückten fast zwei Stunden lang, sprachen über Gott und die Welt, lachten, bis wir fast an unseren Honigbroten erstickten.
    Und dann, am späten Vormittag, kam mein Vater und holte mich ab. Wir waren noch im Pyjama. Ich zog mich rasch an und verabschiedete mich von Sarah und ihrer Mutter. Alle beiden versicherten mir, dass ich jederzeit wiederkommen könne, wenn ich Lust dazu hätte, dass mir ihre Tür immer offen stehe. Ich umarmte Sarah. Sie verströmte noch den morgendlichen Geruch nach frischen Laken, Schweiß und süßem Kaffee. Dann verließ ich die kleine, noch immer lichtdurchflutete Wohnung, aus der ich tausend unbeschreibliche Eindrücke mitnahm. Damals wusste ich nicht, dass sie mich noch Jahre später verfolgen sollten.
    Seit ihrer Rückkehr aus den Vereinigten Staaten lebte Sarah allein mit ihrer Mutter Martine – und gelegentlichen »Stiefvätern«– in dieser vernachlässigten Vierzimmerwohnung im 12. Arrondissement. Sarahs Vater war seit Jahren fort, und sie sprach nie über ihn. Ein oder zwei Jahre nach ihrer Geburt hatten sich ihre Eltern scheiden lassen, und diese Zeit stand ganz im Zeichen der Gerichtsverhandlungen und der scheußlichen Auseinandersetzungen zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter. Allem Anschein nach hatte Martine danach mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen, und Sarah zu ihren Eltern gegeben, sie später aber wieder zu sich genommen, ehe sie mit ihr nach Kalifornien flüchtete. Sie hatte im Leben viel mitgemacht. Manchmal kam sie spät in der Nacht nach Hause, während Sarah und ich im dunklen Zimmer auf ihre Rückkehr warteten; wir hörten dann das Quietschen der Wohnungstür, ein Lachen in der nächtlichen Stille, Schritte bis zu ihrem Zimmer und dann Gekicher, das bis zum Morgengrauen weiterging. Wenn wir am Morgen aufstanden, kam auch sie aus ihrem Zimmer, mit zerknittertem Gesicht, gefolgt von einem Mann, der fast immer ein anderer war. Zu Anfang war ich schockiert. Sarah sagte, das sei nicht schlimm, es sei ihr egal.
    Finanziell war Sarah nicht besonders gut gestellt. Ich war ein verwöhntes Geschöpf der Bourgeoisie, sie gehörte der Mittelschicht an. Trotzdem beneidete ich sie über alle Maßen. Sie wurde mit Zuneigung überhäuft. Ihre Großeltern liebten sie über alles, und die Freunde ihrer Mutter behandelten sie wie ihre eigene Tochter, von den Mitschülerinnen oder den Jungs gar nicht zu reden. Was Martine angeht, so bestand sie auf einer Mutter-Tochter-Beziehung, die mehr einer Freundschaft glich. Deshalb konnte ich jahrelang nicht anders, als in Sarahs Mutter meine gefährlichste Rivalin zu sehen.
    Sarahs und mein Leben hätten nicht unterschiedlicher sein können. Auch was den Lebensstil unserer Familien anging. Während ihr Alltag ein heilloses Chaos war, hatten mich

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