Dich schlafen sehen
eine Weile durchhalten. Wir sind fast am Ziel. Wenn ihr dort seid, braucht ihr keine Luft mehr, das verspreche ich euch.«
Und dann wurde alles weiß. Ich schmeckte das Blut, das aus meiner Brust heraufstieg und meinen Mund streichelte, spürte seinen nassen bitteren Kuss auf der Zunge. Ich wusste, dass ich es geschafft hatte, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Ich jubelte, meine Freude war grenzenlos. Der Himmel vor mir wurde so hell, dass ich die Augen schließen musste, und dennoch blendete mich das immer greller leuchtende Weiß. Nun hatte ich nichts weiter zu tun, als mich langsam fallen zu lassen, sachte, ohne einen Laut. Zwei Stimmen riefen aus der Ferne: »Charlène! Was ist mit dir? Sie atmet nicht mehr. Achtung, sie fällt!« Dann war alles still.
Nur ein anhaltendes Flüstern brandete noch an mein Ohr, selbst in der Stille.
Atme, Charlène. Atme.
Und ich fiel. Ich spürte, wie mein Körper ganz langsam in eine bodenlose, tiefe Leere sank, und ein Gefühl der Freude und Genugtuung überkam mich. Ich ließ den Schmerz die Oberhand gewinnen. Ich spürte, wie der Hauch des Todes gegen den Hauch des Lebens kämpfte und dann völlig von mir Besitz ergriff. Ich sah diesen Tod, er lebte in mir. Mein letzter Gedanke war, dass ich gewonnen hatte.
Als ich wieder die Augen aufschlug, mit schweren Lidern und trockenen Lippen, eine Sauerstoffmaske auf dem Mund, fühlte ich mich leicht, doch ich wusste sofort, dass ich versagt hatte. Wieder hatte ich das Spiel verloren, mein Körper war nicht tot. Ich war feige. Und die Vorstellung, mich der Welt ein zweites Mal stellen zu müssen, erfüllte mich mit tiefer Abscheu.
Meine Mutter weinte. Sie hielt meine kalte und starre Hand in ihrer, die so warm und so lebendig war. Mein Vater, der vor meinem Bett stand, zeigte keine Regung. Seine Augen waren gerötet. Er sah erschöpft aus, tiefe Schatten durchzogen sein Gesicht. Dann bemerkte ich, dass hinten im Zimmer, in einem schwarzen Ledersessel, mein Bruder saß, den Kopf in die Hände gestützt, die Finger in den zerwühlten schwarzen Haaren. Still begannen wir zu weinen.
Sie blieben den ganzen Tag bei mir, diesen und auch die folgenden. Meine Hand blieb stundenlang mit der meiner Mutter vereint, und jedes Mal, wenn sie sich im Augenblick des Abschieds trennten, hatte ich etwas mehr Kraft als zuvor. Ich wartete bis zum Abend, ehe ich weinte. Ich weinte, weil ich wieder leben sollte, und davon wurde mir schwindelig. Aber mir war bewusst geworden, dass ich meine Familie trotz allem liebte, und vor allem hatte ich erkannt, dass ich beinahe etwas nicht wieder Gutzumachendes getan hatte. Die Tage verstrichen an ihrer Seite, ich spürte, wie der Tod allmählich von mir wich und das Leben wieder die Oberhand gewann. Mein Hals brannte, aber dieses Brennen rührte nicht mehr von dem Gefühl zu ersticken: Es war einfach nur der Geschmack der Tränen.
Ich brachte die Tage damit zu, die weißen Wände meines Zimmers zu betrachten, ein makelloses Weiß, rein, klar, beruhigend, lebendig. Ich atmete wieder, und mit einem Mal erkannte ich, was für ein unglaublich schönes Gefühl es war, wenn ich die Luft einsog, wenn sie meine Lunge füllte und schließlich meinen ganzen Körper durchströmte. Das Weiß und der Sauerstoff gaben mir ein Gefühl der Leichtigkeit, der Weite, des Wohlbefindens. Ich hatte den Eindruck zu schweben, über mir selbst zu fliegen. Ich dachte nicht an morgen.
Eines Tages erschien jemand in der Tür, die einen Spalt offen stand. Im blendenden Licht des Nachmittags dachte ich zuerst, ein Engel, dann löste sich die Gestalt aus dem Schatten und kam näher. Ich erkannte Sarah.
Sie stellte einen riesigen Blumenstrauß auf meinen Nachttisch und erklärte mir, dass er von der gesamten Klasse und den Lehrern sei. Dann setzte sie sich neben mich. Sie sprach lange, und ich hörte sehr aufmerksam zu. Ihre Stimme war klar und ruhig. Und mir war, als ob ich mit jedem ihrer wohltuenden Worte etwas mehr Zutrauen fasste. Einen Augenblick lang fühlte ich mich endlich verstanden, geborgen.
Sie betrachtete mich mit ihren bernsteinfarbenen Augen, die ein seltsames und durchdringendes Licht verströmten. Sie sagte zu mir: »Seit ich am Chopin bin, mache ich mir Gedanken über dich, denn du bist immer allein, still und verschlossen. Ich weiß ganz genau, dass du unglücklich bist, Charlène, das springt ins Auge. Du hast niemanden. Und ich weiß auch, dass du nicht zufällig hier gelandet bist, im Krankenhaus. Das war kein
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