Dich schlafen sehen
bleiches Gesicht. Ihre Augen leuchteten. Sie schienen das ganze Gesicht einzunehmen.
»Du hast wohl Mühe, mich wieder zu erkennen, was?«, sagte sie, während ich sie schweigend betrachtete.
Natürlich wusste ich, wer sie war. Ich versuchte zu lächeln, dann nahm ich sie in die Arme, in der Hoffnung, die Vanessa meiner Kindheit wieder zu finden. Leider hatte ich nur das Gefühl, einen zerbrechlichen Körper in den Armen zu halten, der bei der kleinsten falschen Bewegung von mir zusammenbrechen würde.
Wir gingen in eine Teestube. Ich verdrückte eine Cremeschnitte und sah ihr dabei zu, wie sie mit dem Törtchen, das ich ihr spendiert hatte, spielte und kaum davon aß.
Wir unterhielten uns zwei Stunden lang, es war, als hätte ich sie nie verloren, oder fast. Ich fragte sie, wie es ihr ergangen sei und was sie hier in Paris mache.
»Ich bin seit einem Monat im Krankenhaus. Heute habe ich Ausgang.«
Dann schlug sie die großen Augen nieder. »Ich bin magersüchtig. Aber das hast du dir bestimmt schon gedacht.«
Sie erzählte mir von ihrer Krankheit und von ihren fünfunddreißig Kilo, von zwei quälenden Jahren und ihrem Kampf gegen den eigenen Körper, den Kliniken, den Therapien, dem Druck von Seiten der Ärzte, dem nahen Tod, den sie mehrmals gespürt hatte.
»Weißt du, ich war mir sicher, dass wir uns eines Tages wieder sehen würden. Ich habe oft an dich gedacht, und noch öfter im Krankenhaus.«
In diesem Augenblick bemerkte ich, dass sie mit dem Anhänger, den sie am Hals trug, spielte, der kleinen blauen Ballerina, die ich ihr vor sechs Jahren geschenkt hatte.
Sie wollte wissen, was ich so getan hätte. Ich antwortete: »Nicht viel, um nicht zu sagen, nichts.« Sie sagte, dass ich mich sehr verändert hätte, dass sie sich mich ganz anders vorgestellt hätte, dass ich nicht mehr so fröhlich wirkte wie früher. Ich brach in Tränen aus und erzählte ihr alles. Alles. Von Anfang an. Von meinen Leiden, meiner eigenen Hölle. Zum ersten Mal und trotz der Jahre, die wir getrennt gewesen waren, ließ ich mich dazu verleiten, alles zu beichten, auch auf die Gefahr hin, dass sie aufstand, mich für verrückt erklärte und sitzen ließ. Doch sie blieb. Als ich zu Ende erzählt hatte, nahm sie meine Hand und sagte: »Ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann, aber wenn ich könnte, würde ich es tun. Ich bin da. Ich weiß, wie es ist, wenn man sich für verrückt hält. Ich weiß, was es heißt, besessen zu sein. Ich habe dasselbe durchgemacht wie du. Aber wo ich auch sein mag, du weißt, dass ich immer bei dir bin. Vergiss nicht, dass uns nichts auseinander bringen kann, Charlène, nichts. Du selbst hast es mir versprochen, erinnere dich.«
Und diesmal war sie es, die mich in die Arme nahm, und ich war diejenige, die mir zerbrechlich vorkam.
Sie gab mir ihre Telefonnummer und ihre neue Adresse. Ich habe mich nie bei ihr gemeldet. Ich habe mich nicht getraut. Seit jenem Herbstnachmittag habe ich Vanessa völlig aus den Augen verloren. Eines Tages, im Gefängnis, erhielt ich jedoch einen Brief. Sie schrieb mir, dass sie wieder gesund sei. Und dass sie sich einen Lebenstraum erfüllt und ein Psychologiestudium angefangen habe. Sie erwähnte den Mord mit keinem Wort. Am Ende des Briefs schrieb sie einfach, dass sie immer meine Freundin bleiben würde, was auch geschehen mochte. Und unterschrieben hatte sie mit »Dein blauer Engel«.
Ich kann Besessenheit nicht definieren. Ich glaube, dass man sie immer in sich trägt. Häufig genügt schon eine Kleinigkeit, um sie auszulösen. Still und heimlich mischt sie sich in unser Leben ein, befällt nach und nach jeden Teil von uns; aber sie ist raffiniert und übt einen verderblichen Einfluss aus, denn sie gibt sich als unsere Freundin aus, was sie jedoch nicht davon abhält, uns zu verraten. Schmerzhaft sind bei alledem nur die Folgen. Wenn man verrückt wird, merkt man es meistens nicht, denn man leidet ja nicht. Am schlimmsten ist der Sturz. Der Moment, in dem man begreift. Auch ich wollte es nicht kommen sehen. Bis ich dann auf dem harten Boden der Tatsachen gelandet bin.
Martine hatte mich eingeladen, über Neujahr ein paar Tage mit ihnen in die Berge zu fahren, in ein Chalet, das mehrere Familien gemietet hatten. Sie waren alle seit der 68er-Revolution miteinander befreundet und feierten jedes Jahr gemeinsam Silvester. Ich hatte die Einladung angenommen, etwas anderes fiel mir nicht ein. Und so fuhr ich mit Sarah und ihrer Mutter los, obwohl ich ganz genau
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