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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brasme
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Grabesstille. Ich fürchtete den Augenblick, wenn Sarah auftauchte, wenn ihr Schatten sich hinter dem braunen Moskitonetz abzeichnete. Dann erschien sie auf der Bildfläche, streifte unsere Wangen mit flüchtigen Küssen und setzte sich, immer gleich vergnügt, zu uns. Sobald meine Eltern gegangen und wir allein waren, verfiel sie wieder in Schweigen. Sie wartete darauf, dass ich sie anflehte, mir zu erzählen. Und wie um meinen Frust noch zu verstärken, berichtete sie dann in herablassendem Ton und mit dürren Worten von den Nächten, in denen sie mit ihm auf sein Zimmer ging, wo sie sich im Halbdunkel liebten. Manchmal träumte ich, ich sei sie. Aber solche Gedanken waren mir verboten, also verdrängte ich sie und begnügte mich mit meiner Beobachterrolle.
    Unser Sommer in der Camargue ging zu Ende. Wir verließen die Wohnung im Morgengrauen, ich half meinen Eltern auf dem Parkplatz, das Auto zu beladen. Im Licht des anbrechenden Tages konnte ich einen Augenblick lang in der Ferne erkennen, wie sie sich umarmten. Sie nahmen Abschied. Sarah kam langsam auf uns zu. Ohne ein Wort zu sagen, stieg sie ins Auto. Auf der langen Fahrt wandte sie ihren Blick kein einziges Mal von der Landschaft, die draußen vorüberzog. Sie weinte still vor sich hin, und das brach mir das Herz. Ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte. Jeder Versuch wurde von ihr unwirsch zurückgewiesen. Sie brauchte mich nicht.
    Doch seltsamerweise war ich froh, dass alles vorbei war. Denn von nun an hatte ich Sarah wieder ganz für mich allein.

Erdulden
    Anfang Oktober beerdigten wir meinen Großvater. Es war kein schöner Herbst. Ich erinnere mich noch an diesen trüben und feuchten Morgen, an den schmerzhaften Kloß in meinem Hals, der mir noch immer den Atem nahm.
    Ich stand vor dem offenen Sarg. Meine Mutter, das Gesicht von den Tränen gezeichnet, die sie seit Tagen in Strömen vergoss, hielt mich am Arm zurück und bat mich, nicht hinzusehen. Ich tat es trotzdem. Ich trat vor und starrte in das Gesicht des Todes, bis mir schwindlig wurde. Ich wich zurück, so tief und widerwärtig war dieser Eindruck, dann ging ich hinter die Leichenhalle und erbrach mich. Zum Weinen fehlte mir der Mut.
    Beim Essen sah ich mir alle ganz genau an, einen nach dem anderen, als falle mir zum ersten Mal auf, wie schrecklich banal sie doch waren. Sie ekelten mich an. Ich bedauerte sie wegen ihrer Dummheit, verachtete ihre Unbekümmertheit und die Oberflächlichkeit, die sie in diesem lächerlichen Leben gefangen hielt. Meine Familie war nur noch eine widerwärtige Sippschaft von Fremden.
    Meine Eltern hatten sich eigentlich nicht verändert. Doch nach fünfzehn Jahren an ihrer Seite wurde mir klar, wie lächerlich sie sein konnten. Sie waren schrecklich gealtert, alle beide. Meine Mutter jammerte immer noch und beklagte sich alle naselang nur in der Absicht, sich dem Nächstbesten an den Hals zu werfen, und mein Vater litt tapfer und schwieg, ausgezehrt von den Jahren unermüdlicher Arbeit, die am Ende alles um ihn herum zerstört hatten. Meine Großeltern väterlicherseits, die Alten, die sich in ihrer kleinen Welt abkapselten, wie um sich gegen die kleinste Gefahr von außen zu wappnen, lebten nur in der düsteren Erwartung ihres Todes und in der Angst, wann die Reihe an ihnen war.
    Sie alle hatten Angst. Sie hofften. Ihr kleines Leben blieb in den Grenzen ihrer armseligen Sicherheit, ihres armseligen Egoismus. Sie wussten nichts. Sie sprachen laut, jeder am Tisch wollte das Wort führen; sie verbrachten ihre Zeit damit, den anderen zu widersprechen, aber sie selbst wussten nichts. Wer waren sie? Wo war mein Platz? Hatten sie auch nur die leiseste Ahnung, wie lächerlich das Leben war? Konnten sie den Hass, den Ekel verstehen, die mich überwältigten, mich, die sie kaum wahrnahmen, Gefangene ihrer selbst, die sie waren?
    Mitten im Essen ging ich. Draußen auf der Veranda, auf dem Fenstersims, lag eine kaum angerauchte Zigarette. Ich steckte sie heimlich ein und verdrückte mich in die Garage. Ich setzte mich auf den kalten Betonboden und lehnte mich gegen das Auto. Von dem Benzingeruch wurde mir noch übler. Ich zündete die Zigarette an. Sie war mir zu stark, zu scharf und zu bitter. Ich spuckte auf den Boden, dann drückte ich die Kippe aus. Ich blieb in dem dunklen Raum sitzen, geblendet von einem Streifen Licht, der durch das Fenster fiel. Meine Abwesenheit hatte offensichtlich niemand bemerkt.
    Nun, da mir klar geworden war, was mich von dieser Familie

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