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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brasme
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und dieser Welt unterschied, blieb mir nur noch eine einzige Sache, an die ich mich halten konnte, und das war Sarah.
    In diesem Augenblick beschloss ich, ihr alles zu geben. Noch mehr für unsere Beziehung zu tun. Ich liebte sie mehr als meine Familie, mehr als mich selbst, mehr als das Leben. Ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte. Es war keine Liebe, die gut tat, im Gegenteil. Wer zu sehr liebt, bis zum Hass liebt, verliert seine Würde, gibt seine Freiheit auf, tut sich zwangsläufig weh. Meine Liebe zu Sarah war eine krankhafte, besessene und schmerzliche Liebe. Ich verfiel dem Wahnsinn. Mein einziger Grund zu existieren war sie, war Sarah.
    Jeden Morgen schreckte mich das Rasseln des Weckers aus dem Schlaf. Ich stand schwerfällig auf und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, ehe ich mich, splitternackt und allein im gedämpften Licht, in dem großen Spiegel in meinem Zimmer betrachtete. Jeden Tag betete ich dieselbe Litanei herunter, bis ich sie auswendig konnte, sagte sie mir von dem Moment an, wo ich die Augen öffnete, bis zu dem Moment, wo ich mit gesenktem Kopf auf das Collège zuging, immer wieder vor und noch einmal am Abend in meinem Bett. In der Nacht fand ich keinen Schlaf mehr, und der Kopf schwirrte mir von diesen Sätzen: »Vergiss nicht, genau darauf zu achten, was du sagst, wie du dich bewegst, was du tust und wie du dich verhältst, vor allen Dingen musst du es analysieren, verstehen, dir genau überlegen. Vergiss nicht, dass alles, was du vor Sarahs Augen tust, wichtig ist, ein einziger Ausrutscher, und du könntest sie endgültig verlieren.«
    Ich führte ein Schattendasein. Nur die Hoffnung auf Sarahs Liebe erhielt mich am Leben. Ich hasste mein Leben. Aber ich war zu besessen, um mir dessen wirklich bewusst zu werden.
    Ich litt unter Sarah, unter ihren Blicken, ihren Vorwürfen, ihrem Schweigen, ihrer Abwesenheit. Jede ihrer Gesten wurde zur Qual. Um sie zufrieden zu stellen, brauchte ich nur zu schweigen, zu erdulden. Ich dachte mir, ich könnte irgendwann ihre Freundschaft zurückgewinnen, wenn ich bei jedem kränkenden Wort, das sie mir an den Kopf warf, die Augen niederschlug. Ich wollte, dass sie mich bändigte, mich beherrschte, mein Leben lenkte; ich selbst war dazu überhaupt nicht mehr in der Lage. Ich war bereit, alles zu geben, alles an sie abzutreten, auch zu sterben, wenn sie es wünschte. Für immer ihre Sklavin zu werden. Sie hätte mich blutig schlagen, auf mich einstechen, mich töten können, wenn sie gewollt hätte.
    »Halt den Mund, Charlène. Du nervst mich mit deiner Bettelei, deinem kindischen Getue. Hör auf, Charlène, du ödest mich an. Tu nichts. Denk nicht mehr nach. Hör auf zu leben. Gib dich damit zufrieden, mir zu gehören.«
    Es war schrecklich. Aber es zugeben hieß, mich geschlagen geben. Mein einziger Ausweg war Schweigen. Ich wusste, ich würde niemals den Mut aufbringen, ihr zu widersprechen, gegen sie aufzumucken. Andere hätten bestimmt versucht, sich zu wehren. Ich nicht. Das Einzige, was mich noch am Leben erhielt, war die Hoffnung, dass eines Tages wieder alles so wurde wie früher, dass ich wieder in den Genuss dieser Freundschaft kam, die uns einmal verbunden hatte. Ich dachte, ich müsste mich zuerst unterwerfen, um ihre Achtung zu erringen. Das war jetzt mein ganzer Lebensinhalt. Beherrscht werden. Jeden Tag erdulden.
    Ich hätte ohne weiteres weggehen und beschließen können, nicht mehr ihre Freundin zu sein. Nichts schien mich zu zwingen, bei ihr zu bleiben. Noch stand es mir frei, mein eigenes Leben zu leben. Doch genau genommen verschwendete ich keinen Gedanken daran. Ich nahm mir nicht die Zeit, mir ein Leben ohne sie vorzustellen, ohne jemanden, von dem ich abhängig war. Ich wollte mich nicht ändern und aus diesem Strudel befreien, der mich gefangen hielt. Ich konnte nicht mehr zurück. Ich ließ mir alles gefallen. Ich war schon tot.
    Eines Tages, kurze Zeit nach der Beerdigung, als ich mit gesenktem Kopf durch die Stadt irrte, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als eine unbekannte Hand mich am Arm fest hielt. Es war wie ein Streicheln. Ich hob den Kopf und stand Auge in Auge einem Mädchen meines Alters gegenüber, das, sehr groß und sehr dünn, mich mit einem strahlenden Lächeln ansah. Ich musterte sie meinerseits flüchtig, ehe ich reagierte. Sie trug ein Sporttrikot, das ihr zu groß war, und Hosen, die um ihre Beine schlackerten. Ihr offenes blondes Haar, eckig geschnitten, rahmte ein ausgemergeltes und fast

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