Dich schlafen sehen
die ich liebe, weil ich dich nicht mehr sehen will. In deiner Gegenwart kann ich mich nicht entfalten. Du bist noch ein Kind. Ich kann dich nicht mehr ertragen. Ich kann ja schon keinen Atemzug mehr tun, ohne dass du hinter mir stehst. Du nimmst mir die Luft zum Atmen. Ich habe Besseres zu tun, als dir zu helfen. Charlène, wir beide sind zu verschieden. Ich brauche Bewegungsfreiheit, Leben. Du kannst nur leben, wenn du dich abkapselst. Ich kann mich nicht entwickeln, wenn du dich ständig an mich klammerst. In deiner Gegenwart ersticke ich. Lass mich in Ruhe. Adieu.«
Ich hörte ein dumpfes Geräusch, dann nichts mehr. Keine Stimme mehr, keine Sarah mehr, nur Leere, und das Amtszeichen, dem ich noch einige Minuten lauschte, ehe ich den Hörer auflegte.
Ich weinte nicht, ich schrie nicht, nichts. Ich zog mich um, bürstete mir kurz die Haare, setzte mir die Sonnenbrille auf die Stirn und warf mir die Umhängetasche über die Schulter.
»Ich gehe aus, Maman. Warte nicht auf mich.«
Ich zog die Tür hinter mir zu und ging. Meine Schritte hallten auf dem heißen Pflaster. Ich ging zum Café de l'Harmonie, stieß die Tür auf und ließ den Blick durch den überfüllten Raum schweifen, bis ich, nur wenige Meter entfernt, die Gestalt Maximes entdeckte, der allein an unserem Tisch saß. Er hatte den Kopf zum Fenster gedreht und starrte auf die Straße hinaus.
»Darf ich mich setzen?«
Er drehte sich zu mir um. Er sah mich so eindringlich an, wie er mich noch nie angesehen hatte. Sonnenlicht fiel durch das Fenster und erhellte sein Gesicht, und ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal seine Augen zu sehen. Ich hatte noch nie bemerkt, wie dunkel ihr Blau war. Es war ein Nachtblau, gleichmäßig und unergründlich. Ein unsagbarer Schmerz stand in ihnen geschrieben. In diesem Augenblick spürte ich wieder den Knoten im Hals, der mir den Atem nahm.
Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm ich ihm gegenüber Platz. Ich zündete mir die letzte Zigarette aus meinem Päckchen an und bestellte eine Limonade. Ich wartete darauf, dass er etwas sagte, ich selbst brachte kein Wort heraus.
»Wo warst du? Ich habe dich mindestens hundertmal angerufen, ich habe dir in einem Monat zwanzig Briefe geschrieben. Keine Antwort, nichts. Ich bin deinetwegen umgekommen vor Sorge. Ich habe mir die schlimmsten Dinge ausgemalt, nur um mir nicht einzugestehen, dass du mich vergessen haben könntest... Aber das ist es, nicht? Du hast mich vergessen, hab ich Recht?«
»Maxime...«
Ich legte meine Hand auf seine. Ich war überrascht, wie kalt sie sich anfühlte. Ich sah ihm weiter fest in die Augen, und ich sagte nichts, als könnte Schweigen die Sache wieder einrenken. Ich drückte meine Kippe im Aschenbecher aus und fragte ihn, ob wir nicht woanders hingehen könnten. Er stand auf und nahm mich an der Hand. Wir verließen das Café de l'Harmonie und gingen schweigend zu seinem Haus, in seine leere Wohnung, in sein Zimmer. Während wir uns liebten, wandte ich keinen Blick von seinen zu großen und zu blauen Augen. Bis zu diesem Augenblick hatte ich sie niemals weinen sehen.
Als alles vorbei war, fing ich an, ihn zu betrachten. In einem dieser Augenblicke, in denen die Stille regiert, in der Ernüchterung, die sich nur in den Minuten nach der Liebe einstellt, sagte er zu mir:
»Es ist aus, nicht?«
Ich nickte.
»Es ist besser so«, sagte ich. »Es ist das Beste für dich und für mich.«
»Du hast dich entschieden«, erwiderte er mit sehr leiser Stimme, ohne mich anzusehen. »Ich kann nichts mehr daran ändern.«
»Es ist gut, dass du verstehst.«
»Und was wirst du jetzt tun?«
»Mach dir meinetwegen keine Sorgen.«
»Ich bin immer für dich da, das weißt du. Du kannst auf mich zählen.«
»Du hast mir schon genug gegeben. Lebe jetzt dein Leben. Vergiss mich, bitte. Das ist der letzte Gefallen, um den ich dich bitte.«
Ich wischte ihm die Tränen aus den Augen und stand auf. Ich zog mich wieder an, rückte die Sonnenbrille zurecht, richtete mein Haar, hängte mir die Tasche über die Schulter. Ich ging, ohne mich umzudrehen.
Das war geschafft.
Jetzt, wo ich Maxime verlassen hatte, wo er endgültig vor mir sicher war, war ich frei und konnte mich dem einzigen Vorhaben widmen, das mich noch am Leben erhielt.
Dich schlafen sehen
Ich musste unbedingt meine Gedanken ordnen. Und dazu musste ich mich ganz von der Welt zurückziehen. Nur dann konnte ich klarer sehen und in aller Ruhe nachdenken. Ich durfte nichts überstürzen und nichts
Weitere Kostenlose Bücher