Dich schlafen sehen
Gesicht. Nichts existierte mehr. Ich hatte das Nichts geschaffen. Aber ich hatte gesiegt.
Ich reagierte erst sehr viel später, irgendwann nachdem sie meine Hände losgelassen hatte, genau weiß ich es nicht mehr. Irgendwann hatte ihr Körper entkräftet aufgegeben. Als ich begriff, dass es vorbei war, dass sie unter meinen Händen nicht mehr atmete, dass in ihrem Körper kein Leben mehr war, wurde mir klar, dass ich Sarah getötet hatte.
Ich hob das Kissen, und als ich das fahle, starre Gesicht sah, so nah, stieß ich einen stummen Schrei aus. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Ich verschloss die Augen vor dem Tod, den ich herbeigeführt hatte. Dann glaubte ich neben dem reglosen Körper die kleine Charlène zu sehen, die auf der anderen Seite der Matratze schlief. Ein Schwindelgefühl überkam mich, und ich ließ Sarah so, wie sie war, auf den Laken liegen, als schlafe sie noch. Ich verließ das Zimmer und die Wohnung auf demselben Weg, auf dem ich nur wenige Minuten zuvor gekommen war. Alles war zu schnell gegangen. Ich lief, ohne stehen zu bleiben, ohne mich umzudrehen, ohne etwas anderes zu sehen als die dunkle Nacht, die mich verschlang. Nach hundert Metern musste ich an einer Ecke anhalten und erbrach mich in eine Mülltonne.
Vier Tage später kam ich nachmittags gegen fünf nach Hause. Es war ein sehr schöner Tag, wie man ihn sich immer wünschen würde, wenn man von der Schule kommt. Ich ging jetzt in die elfte Klasse, wirtschaftswissenschaftlicher Zug. Zwei Stunden lang arbeitete ich ununterbrochen an meinem Schreibtisch. Unordentliche Papierstapel, Bücher, lose Blätter, Kopien und anderes Unterrichtsmaterial, ein Diätjogurt auf der einen und die letzte Ausgabe von
Vingt ans
auf der anderen Seite beruhigten mein Gewissen. Ich hatte das Fenster in meinem Zimmer offen gelassen, und die neuen Vorhänge, die ich am Abend zuvor aufgehängt hatte, schwangen hin und her und bauschten sich in dem leichten Wind.
Es war fast acht, als im Flur die Klingel schrillte. Meine Eltern waren heute Abend nicht da. Ärgerlich über die Störung eilte ich in die Diele und öffnete die Tür. Vor mir stand eine sehr große und sehr hagere Gestalt, reglos, die Hände in den Taschen, mit leerem Blick.
»Ach! Guten Abend, Maxime.«
Er trat näher. Seine Miene war ernst und unbewegt. Seit zwei Monaten hatte ich ihn nicht gesehen. Er war abgemagert, das fiel mir sofort auf. Kaum zu glauben, wie er sich seit unserer Trennung verändert hatte. Er trug eine Hose, die ihm zu weit war, und ein tailliertes Hemd mit einem eigenartigen Muster, darüber ein langes Sakko, das ziemlich ausgefallen war, ihm aber überhaupt nicht stand und nicht zu ihm passte.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, küsste ihn flüchtig auf beide Wangen und bat ihn herein.
»Setz dich.«
»Nein danke. Ich bleibe lieber stehen.«
»Wie du willst.«
Er schlug die großen Augen nieder und sagte nichts mehr. Vielleicht wartete er darauf, dass ich ihn nach dem Grund seines überraschenden Besuchs fragte. Doch ich fing an, von mir zu erzählen, von den neuen Lehrern, von Freunden vom Café. Ich merkte sofort, dass er nicht zuhörte.
»Und du? Was hast du so gemacht?«
»Nicht viel. Ich bin jetzt im naturwissenschaftlichen Zug, aber das ist nicht sehr spannend. Am liebsten würde ich die Schule hinschmeißen. Das Gymnasium hängt mir zum Hals raus.«
Und dann fügte er hinzu, dass er eine neue Freundin habe. Sie heiße Marianne und wohne in seinem Haus. Im Moment scheine es zu klappen, aber er wisse nicht, ob die Sache von Dauer sei. Na ja.
Er hielt inne und hob den Blick, musterte mich eine Weile, ohne etwas zu sagen, und fuhr dann mit seiner leisen, leicht verrauchten Stimme langsam fort: »Gestern Morgen ist Sarah tot in ihrem Zimmer aufgefunden worden. Ihre Mutter war einige Tage verreist und hat sie entdeckt. Erstickt.«
Ich war sprachlos. Mein Leben, meine Sinne, mein Verstand standen still, während alles um mich herum aufgeregt durcheinander lief. Ich war verloren, ich war nirgendwo. Ich konnte keinen Gedanken fassen. Ich wusste nicht mehr, wie ich reagieren sollte, tat so, als sei ich über die Nachricht entsetzt. In Wahrheit schrie ich vor Schmerz, denn Maxime hatte mich soeben entlarvt, und ich hatte es nicht kommen sehen.
»Man geht davon aus, dass es Mord war«, fügte er hinzu, um das Schweigen zu brechen. »Die Polizei hat eine Untersuchung eingeleitet, man wird sehen.«
»Ich... also, ich weiß nicht, was ich sagen soll,
Weitere Kostenlose Bücher