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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brasme
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zitterte nicht, doch ich spürte, dass ich schwitzte, dass meine Hände und mein Rücken feucht waren. Der Augenblick, in dem ich dieses Zimmer verlassen würde, rückte Sekunde für Sekunde näher, und mit jedem Schlag wurde meine Angst beklemmender. Ich wusste, es gab kein Zurück mehr, wenn ich erst einmal unterwegs war. Ich spürte, dass der Moment jetzt da war, und machte mich auf den Weg.
    Meine Eltern schliefen schon seit gut drei Stunden und hörten mich nicht. So leise wie möglich kletterte ich aus dem Fenster. Meine Schritte hallten durch die stillen Straßen. Alles, was ich jetzt noch zu tun hatte, war weiterzugehen, immer weiter, bis zu Sarah.
    Die Nacht war mild. Keine, die ich im Lauf meines Lebens hatte erleben dürfen, war mit dieser vergleichbar. Und mir war, als seien alle Augen dieser Welt auf mich gerichtet, auf diese kleine zierliche Gestalt, deren Schatten über die Mauern und Pflastersteine huschte.
    Ich kam vor Sarahs Haus an. Ich wusste, dass sie nachts immer ihr Zimmerfenster offen ließ; nun hieß es nur noch, an der Außenwand in den ersten Stock hinaufzuklettern. Ich suchte mit den Augen den schwarzen 106 ihrer Mutter, konnte ihn aber nirgends entdecken. Es war kurz vor zwei Uhr, und normalerweise kam sie nie vor dem Morgengrauen nach Hause. Ich betete, dass sie heute keine Ausnahme machte. Mein Herz schlug so heftig gegen meine Brust, dass ich meinte, sie müsste zerplatzen. Ich holte tief Luft und schloss für einen Moment die Augen, wie um mich ein letztes Mal zu sammeln. Ich hörte die leise Stimme in mir: »Los. Du bist fast am Ziel. Worauf wartest du?«
    Ich legte los. Ich folgte meinem Plan: über das Gartentor steigen, dann auf dem Weg bis zur Terrasse im Erdgeschoss und an dem mit wildem Wein bewachsenen Spalier hinauf zum Balkon ihrer Wohnung. Bis dahin ging alles glatt, nur ein oder zwei Ausrutscher hatten die Nachbarn im Erdgeschoss aufgeschreckt. Ich verstärkte den Griff meiner feuchten Hände, um den Halt nicht zu verlieren, und verharrte reglos. Das Licht ging wieder aus. Mit doppelter Vorsicht erklomm ich die nächsten zwei oder drei Sprossen, dann war ich auf dem Balkon von Sarahs Wohnung.
    Das Fenster stand offen, ich war fast am Ziel. Ich näherte mich ihrem Schlaf. Ich hörte sie atmen, meinte zu spüren, dass sie träumte. Leise zog ich die Vorhänge auseinander und schlüpfte in das Zimmer, in dem ich mit ihr so viele Nächte verbracht und so viele Träume geteilt hatte. Während ich langsam näher trat, meinte ich unser Kindergemurmel zu hören, aus der Zeit, in der wir Freunde gewesen waren.
    Da lag sie. Auf der Matratze, die auf dem nackten Fußboden lag, den Kopf auf dem Kissen, die Haarsträhnen auf dem Laken, die linke Hand vor dem Gesicht zusammengeballt, die andere entspannt auf der Decke. Sie rührte sich nicht. Ich hörte kaum den Hauch ihres Atems. Sie wachte nicht auf. Ich ging weiter und setzte mich neben sie, um sie im Schlaf zu betrachten. Wir waren allein, nur sie und ich, von Angesicht zu Angesicht. Ich konnte anfangen.
    Langsam und lautlos griff ich nach dem Kopfkissen. Jetzt konnte mich nichts mehr aufhalten. Ich betrachtete sie ein letztes Mal. Gern hätte ich für einen Augenblick die Augen geschlossen, doch ich zwang mich, sie offen zu lassen. Ich musste alles in vollem Bewusstsein tun.
    Dann hielt ich die Zeit an und machte allem ein Ende: der Stille, dem Frieden, der Unschuld des Schlafs, der Ruhe der Nacht. Ich hob das Kissen und drückte es ihr mit der ganzen Kraft, die noch in meinem Körper steckte, aufs Gesicht. Plötzlich zuckte sie unter mir, und ich spürte, wie ihr Körper sich aufbäumte, wie sie mit Armen und Beinen um sich schlug, hörte ihre erstickten Schreie unter dem Kissen. Ich ließ nicht nach. Bis zum Ende. Ihre Hände hatten mich an den Handgelenken gepackt, aber ich war stärker. Ich zwang ihren Körper, die Gegenwehr aufzugeben. Ich ließ nicht von ihr ab, drückte ihr das Kissen noch fester aufs Gesicht. Es dauerte kaum ein paar Minuten, doch unablässig gingen mir diese quälenden Bilder durch den Kopf. Ich durfte keine Sekunde nachlassen. Mein Körper beherrschte ihren. Ich weiß nicht mehr, was ich dabei empfand. Ich denke mir, dass in einem solchen Augenblick der Verstand die Herrschaft über den Körper verliert. Für kurze Zeit geriet ich in einen Zustand höchster Ekstase, der Bewusstseinstrübung, der Verwirrung, des Ichverlusst. Nichts zählte mehr außer den Händen auf dem Kissen und dem Kissen auf dem

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