Dichterliebe: Roman (German Edition)
mehrere weitere folgen, ohne ruhiger zu werden.
Endlich kommt auch Sidonie, beschwingt. Leopold sitzt im Nachtzug nach München, ein gutes Zeichen: Als Liebhaber wäre er doch tags gefahren. Sidonie setzt sich neben mich und streicht mir über die Schulter. Flammen.
» Na, Henry, warste schon dran?« fragt Gabriel. » Wann darf ich denn mal?«
Ich sehe Sidonie sprachlos. Ihr Glanz erlischt.
» Hätte ich dran sein dürfen, würde ich dich jetzt niederschlagen«, antworte ich, insgeheim froh, daß das Theorie ist. Ich spüre seine Raserei und weiß, er ist stark.
» Mein Ritter«, sagt er zärtlich. » Schön, daß es dich gibt. Komm, trink mit mir noch n Klaren …«
Sich selbst gießt er einen doppelten ein. Wir trinken auf Anna, seine Augen werden feucht.
» Zufrieden, Sidonie?« frage ich.
» Ja!« Sie bewegt vor sich alle zehn Finger, eine Geste des Tippens, oder des Klavierspielens. » Obwohl man natürlich nie weiß …«
» Talent ist Fleiß«, kommentiert Bernd freundlich.
» Der Schweiß ist das Weinen der Muskeln«, Gabriel, väterlich. » Soll ich dir die Schultern massieren? Na los, alle Schriftsteller haben verkrampfte Schultern.« Er kommt erstaunlich geschmeidig auf die Beine, stellt sich hinter Sidonie und massiert mit seinen fleischigen Händen ihre Trapezien. Es scheint ihr zu gefallen, sie entspannt sich und brummt.
Auf einmal beugt er sich über sie und packt ihre Brüste. Sie befreit sich heftig. Er nimmt grinsend Platz. » Konnte nicht widerstehen, Gnädigste, fühlt sich einfach zu gut an.«
Sidonie in Erniedrigung; es steht ihr nicht, aber wem steht es? Ihr fehlen die Worte, was die Sache noch schlimmer macht. Ich möchte ihr beispringen; doch auch mir fällt nichts ein.
Gabriel hebt das Glas: » Kommt, ihr Lieben, trinken wir auf meine Anna!«
Sidonie hat ihre Sprache wiedergefunden. » Und was würde deine Anna sagen, wenn sie wüßte, wie grob du Stipendiatinnen anmachst, während sie auf den Tod liegt?« Nicht brillant formuliert, doch als Protest angemessen, ich stimme insgeheim zu.
Gabriel fährt von seinem Stuhl hoch. Mit dem Pegel kann der noch springen. Er baut sich auf und stößt hervor: » Meine Haupttriebfeder ist die Lust. Das haben wir beide immer gewußt und genutzt, und wenn irgendeiner das versteht, dann sie. Was aber die Grobheit anbetrifft: Ich weiß, was ich tue, und wie ich rede. Ich rede deutlich und bin stolz darauf. Ich kenne in Ostfriesland Dutzende von Kulturdamen, die vielleicht kultivierter und gebildeter sind als ich, aber gerade die wissen, wer ich bin, und ich kann sie alle haben – jederzeit! Denn ich bin der größte Vögler von Ostfriesland!«
Das ist eine zu gewagte These, als daß jemand sie aufgriffe. Man sitzt stumm, vielleicht beeindruckt. Oder amüsiert? Ich spüre nur die Stille, während ich mit dem Brechreiz kämpfe. Warum reagieren? Bleib sitzen, Henry. Schweige.
Ich ohnmächtiger Ochse. Wieder ein Tag des Versagens: Ich überließ die kranke Dora ihrem Koffer, soff eine halbe Flasche Wodka, kann Sidonie nicht beistehen, Gabriel nicht widerstehen, ein sprachloser Dichter, eine Null. Ich habe mein Recht, an diesem Platz zu sitzen, verwirkt. Ich stütze mich auf den Tisch. Komme auf die Füße. Stehe, endlich, immerhin. Alle starren mich an. Was soll ich sagen? » Ja, die Männer«, sage ich. » Immer die Größten, immer die Schärfsten, laufen nie davon, bereit zu jedem Streit … kein Triumph zu vulgär, keine Ehre zu billig, keine Kameraderie zu dumpf. Einigkeit und Harmonie untereinander, aber von den Frauen brauchen sie nur die Fotzen … Gratuliere. Und dann mußte ich mir auch noch diesen unglaublich schönen, sympathischen, eleganten Komponisten von Sidonie ansehen; wie die miteinander am Tisch saßen und Noten schrieben, und wie da oben das Licht an- und ausging; ich … Ach, o Gott … Aus. Entschuldigung, jetzt muß ich weinen. Ich gehe. Aus. Entschuldigung.«
Da aber meine letzten Worte in Lachsalven untergegangen sind, setze ich mich wieder.
*
Wir sind Wahnsinnige. Wären wir’s nicht, wir würden nichts schaffen. Wir entwerfen Modelle des Lebens, die gut oder schlecht sind, farbig oder schwarzweiß, fein oder grob, doch eins müssen sie liefern, sonst will uns keiner: die Illusion von Bedeutsamkeit – der Menschheit, des einzelnen, des Ich. Das Vergängliche ist kein Gleichnis, es ist vergänglich, sonst nichts. Was wir Dichter stiften, sind Märchen. Nur wenn die überzeugend bedeutsam sind, pompös,
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