Dicke Hose (German Edition)
noch ein Stückchen aufrauen, zähflüssige Masse ausgießen, abwarten, anschauen, prüfen, wieder einen Test machen, wieder abwarten. Dann legt er ein komisches Gitter, testet wieder etwas, öffnet noch mal eine geheimnisvolle Dose und gießt den Inhalt auf den Boden, bis endlich die Fliesen gelegt werden können. Wie von Geisterhand schafft er aus den marokkanischen Fliesen ein Muster, das so gut mit dem Fußboden harmoniert, dass man nie wieder ein Regal draufstellen möchte. Als er gefühlte Stunden später auch noch die Fugenmasse aufgetragen hat, schart sich ein Kreis aus Bewunderern um ihn.
«Normalerweise hätte ich das zwar nicht so verlegt», sagt er selbstkritisch, als ich gerade einen Siehst-du-es-hat-doch-alles-wunderbar-geklappt-Blick in Victorias Richtung schicke. «Aber normalerweise plant man ja auch nicht so kurzfristig.»
Postwendend erhalte ich per Augenkontakt die Antwort: Hättest-du-dich-eher-gekümmert-hätte-der-arme-Mann-nicht-solchen-Stress-gehabt.
Schließlich klopft sich der Fliesenvirtuose den Staub von der Hose und steht auf. «Passen doch gut hierhin, die braunen Steine. Ein Segen, dass ich immer alles aufbewahre.» Er lächelt stolz in die Runde. «Meine Lotti sagt immer, ich soll mal den Keller ausmisten, aber jetzt habe ich ihr etwas entgegenzusetzen: Aus Resten lassen sich durchaus noch schöne Sachen zaubern.»
«Ja, man muss den Frauen einfach manchmal die Stirn bieten», lacht Ernesto Micolucci, ohne jemand Spezielles dabei anzusehen. «Falls Sie und Ihre Frau Interesse haben, zu unserer Feier zu kommen, sind Sie beide herzlich eingeladen. Vielleicht mag die Signora sich sogar eine Tasche aussuchen?»
Der Mann der Möhre strahlt. «Ja, das würde Lotti gefallen. Wir kommen mit Sicherheit, Herr Micolucci. Allerdings …» Er wirft einen Blick auf die Uhr. «Vermutlich erst so gegen Mittag. Ich muss mich erst einmal ausschlafen.»
«Lassen Sie sich Zeit. Bis 16 Uhr haben wir geöffnet.» Der Chef klopft seinem Fliesenleger genauso kraftvoll auf die Schulter wie seinem Adoptivsohn. Dann klatscht er in die Hände. «Feierabend!»
* * *
Am nächsten Morgen sieht die Welt um mich herum schon ganz anders aus. Sie ist noch einen Tick grauer geworden.
Um Punkt neun Uhr stehe ich vor Miucci und stelle fest, dass drinnen bereits Licht brennt. Um Victoria vor dem turbulenten Tag abzupassen und endlich ein paar vernünftige Worte unter vier Augen sprechen zu können, bin ich extra eine Stunde vor Ladenöffnung erschienen. Gestern hat Herr Micolucci sie auf dem Weg zu seinem Hotel nach Hause gefahren. Da blieb keine Gelegenheit für ein Gespräch. Aber jetzt will ich die Chance nutzen. Auch das Outfit des Tages habe ich bereits an: die Krönung der Versace-Woche. Ein schlichter schwarzer Anzug, den Kai mir freundlicherweise gestern im Keller noch aus dem Gewühl gefischt hat. Kombiniert mit einem schwarzen Hemd und schwarzer Krawatte, sehe ich tatsächlich aus wie der prominente Sohn eines Modemagnaten. Ob Kai mir dieses Beerdigungs-Outfit allerdings im Hinblick auf den bevorstehenden Tag oder einfach nur aus geschmacklichen Gründen ausgesucht hat, weiß ich nicht. Fakt ist jedoch, dass es mir gefällt. Im Vergleich zu den Scheußlichkeiten der letzten Woche geradezu Rock’n’Roll.
Mit klopfendem Herzen durchquere ich das Foyer, das Gespräch mit Victoria fest vor Augen. In der Küche rattert die Kaffeemaschine. Erwartungsfroh biege ich um die Ecke und – erblicke Florian.
«Na, da musst du den Cayenne aber getreten haben!», begrüße ich ihn in Anspielung auf seine zügige Anreise. «Konntest es wohl nicht mehr abwarten, deinem alten Herrn unter die Augen zu treten, was?»
Florian wirbelt herum. In Sachen Augenringe tun wir uns nicht viel. Während ich stundenlang wegen Victoria wachgelegen und mir nebenbei noch ein Schicksal in den Klauen der Mafia ausgemalt habe, scheint Flo die Nacht durchgefahren zu sein. Trotz einer gehörigen Portion Urlaubsbräune wirkt sein Gesicht fahl und gestresst. Er verzieht den Mund. «Mensch, Alex, was ist denn hier los? Warum ist mein Vater angereist? Der soll sich doch nicht aufregen und seine Gesundheit unnötig strapazieren!»
Geht das jetzt schon wieder los?
«Weißt du was, Flo? Langsam reicht es mir. Und überhaupt: Wenn du hier jemanden von Aufregung abschirmen solltest, dann bin das ja wohl ich. Weil ich nämlich sonst bald durchdrehe.» Wütend schiebe ich ihn zur Seite, stelle eine Espressotasse in den Kaffeeautomaten und
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