Die 10. Symphonie
- er wusste nur zu gut, wie man diese gefürchtete, noch namenlose Krankheit bekam, und kannte auch ihre unheilbringenden Folgen -, ging er sofort noch einmal mit dem Arzt zu seiner Tochter, die sich schon unter ersten Muskelkrämpfen auf dem Krankenbett wand. »Beatriz, das ist sehr wichtig: Hast du dich in den letzten Tagen verletzt?«
»Nein, Vater«, antwortete sie schwach. Durch die Muskelstarre fiel ihr das Sprechen schwer. »Vor kurzem hast du doch wegen des Bodens in deinem Zimmer mit Hammer und Nägeln herumhantiert - bist du ganz sicher, dass du dich nicht an irgendeiner rostigen Spitze verletzt hast?«
»Ich bin ganz sicher, Vater. Ich habe nur einen kleinen Pferdebiss hier am Hals.«
Beatriz nahm das Tuch ab, unter dem sie Incitatos Biss verborgen hatte - schlie ßlich hätten böse Zungen behaupten können, den Biss habe ihr ein allzu leidenschaftlicher Liebhaber zugefügt -, und ihr Vater sah die bisher sorgfältig versteckte Wunde zum ersten Mal. »Schauen Sie sich das einmal an, Herr Doktor.« Der Arzt inspizierte die Wunde und bestätigte, dass die Infektion von ihr ausgegangen sein konnte: »Es handelt sich um irgendein anaerobes Bakterium«, erklärte er. »Wenn die Wunde ordentlich blutet und dann mit Wasser und Seife ausgewaschen und nicht verbunden wird, infiziert sie sich nicht so leicht, denn diese Mikroorganismen gehen unter aeroben Bedingungen ein. Doch wie ich sehe, hat Ihre Tochter die Wunde einige Tage lang bedeckt. Sie ist zwar nicht sehr tief, aber offensichtlich ist nicht gen ügend Luft daran gekommen.«
Don Leandro verbarg das Gesicht in den H änden, ohnmächtig und verzweifelt. Eine Weile rührte er sich nicht; dann fragte er, ohne darauf zu achten, dass seine Tochter ihn hören konnte: »Wird sie sterben, Doktor?« Dem Arzt widerstrebte es, die Prognose im Beisein der jungen Frau abzugeben, und er antwortete nicht. Als Don Leandro keine Antwort erhielt, erhob er sich von der Bettkante, wo er gesessen hatte, packte den Palastarzt voller "Wut am Revers und schüttelte ihn. »Antworte, Quacksalber! Ich habe gefragt, ob sie sterben wird!«
»Vater, ihn trifft keine Schuld!«, keuchte Beatriz, der selbst in ihrem bejammernswerten Zustand der Ausbruch Don Leandros bei ihrem geliebten Beethoven noch allzu deutlich vor Augen stand.
»Du hast ja recht«, gab Don Leandro zu und ließ den Mediziner los, der auf Zehenspitzen stand, damit sein Rock nicht riss. »Sag mir, welches Pferd das war! Sag mir, wer dich gebissen hat!« »Vater, was habt Ihr vor?«
»Ich bringe diese Bestie um! Sag mir den Namen! Auf der Stelle!«
Selbst wenn Beatriz Incitato und seinen Reiter, Robichon de la Gueriniere, h ätte verraten wollen, wäre es ihr nicht möglich gewesen, denn in diesem Moment durchfuhr sie ein heftiger Schmerz in der Bauchgegend - als hätte man an ihr einen Kaiserschnitt ohne Betäubung durchführen wollen. Mit Laudanum konnte der Arzt dieser ersten Schmerzattacke beikommen, doch dagegen, dass sich im Laufe der n ächsten Stunden die charakteristischen Symptome häuften und immer stärker wurden, konnte er nichts tun.
»Wenn das Pferd sie nicht in den Nacken gebissen hätte, in so unmittelbarer Nähe des zentralen Nervensystems«, gestand der Arzt, »hätte ich vielleicht noch etwas ausrichten können. Doch nun ist es zu spät. Die Krankheit hat sich schon im gesamten Organismus ausgebreitet.« Achtundvierzig Stunden nach der Diagnose starb Beatriz de Casas unter entsetzlichen Zuckungen und Atemnot, hervorgerufen durch die unaufhaltsam fortschreitende Lähmung der Atemwege.
Auch Beethoven kam zu der Aufbahrung, f ür die der Leichnam bedeckt wurde, da das Nervengift im Gesicht der jungen Frau grausige Spuren hinterlassen hatte: Beatriz' Gesichtsmuskeln waren zu einem fratzenhaften Grinsen verzogen.
Das Schicksal wollte es, dass Beatriz de Casas, die Frau, die Beethoven zu seiner revolution ärsten Symphonie inspiriert hatte, an einem 17. Dezember starb. Am selben Tag im Jahr 1770 war der Komponist geboren worden.
54
Zw ölf Ziffern. Noch zwölf Ziffern trennten Daniel nach Ansicht der Richterin und des Gerichtsmediziners von dem Safe, in dem die Partitur der zehnten Symphonie lag. In irgendeiner österreichischen Bank - vermutlich in Wien - hatte Thomas das wichtigste musikalische Manuskript der letzten Jahrhunderte gelagert. Und im Augenblick hatte niemand den Schlüssel, um herauszufinden, welche Bank es war. Es fehlten zwölf Ziffern, die theoretisch in der Tätowierung auf
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