Die 10. Symphonie
dem Kopf des ermordeten Musikers codiert waren und die Daniel einfach nicht entschlüsseln konnte, soviel er auch darüber nachdachte. Und wenn sie sich alle irrten und der Rest des Codes woanders war, zum Beispiel auf einem weiteren Tattoo? Nein, das war höchst unwahrscheinlich, dachte Daniel. Thomas' Körper war sicher von Pontones' Team gründlich abgesucht und bis in die letzte Hautfalte inspiziert worden. Und wenn der Mörder den Code schon entziffert hatte und mit der Partitur bereits Tausende Kilometer weit weg war? Dann musste er vorher in der Bank gewesen sein, um die Partitur zu holen, und die Angestellten würden eine genaue Beschreibung seines Aussehens geben können. Es wurde immer deutlicher: Die vollständige Dechiffrierung der Noten war der Weg, um den Mörder des Musikers zu finden.
Als er Dona Susanas B üro verlassen hatte, rief Daniel als Erstes seinen Freund Malinak an, um in Erfahrung zu bringen, ob der Name de Casas irgendwie in Verbindung mit der Spanischen Hofreitschule stand. Dann hörte er seine Mailbox ab, auf der zwei Nachrichten waren, und rief zunächst Humberto zurück. In drei Tagen würden er und Cristina heiraten.
»Und noch was: Sie wollte zwar, dass es ein Geheimnis bleibt, aber du bist mein Freund, und ich muss es dir einfach sagen - Alicia kommt zur Hochzeit, und was noch viel unglaublicher ist ...«
»Was? Sie hat mir gar nichts davon gesagt!«, unterbrach ihn Daniel.
»... es soll eine Überraschung für dich sein.« »Das heißt, wenn ich Alicia sehe, stelle ich mich dumm und tu so, als hätte ich nicht gewusst, dass sie kommt?« »Wovon redest du denn da? Es geht um was ganz anderes: Daniel, deine Freundin will euer Baby bekommen!« Seit ihrem Gespräch über die Koordinaten, die sich aus der Tätowierung ergaben, hatte Daniel nicht wieder mit Alicia gesprochen und dachte erst, sein Freund würde ihm einen Bären aufbinden. Doch eigentlich war dies keine Angelegenheit, über die Humberto Witze machen würde. »Wann hat sie dir das gesagt?«
»Mir überhaupt nicht - Cristina. Aber ich hatte den Hörer abgenommen, weil ich telefonieren wollte, und habe erst nicht gemerkt, dass die Leitung nicht frei war. So hab ich es zufällig mitbekommen.«
»Weißt du vielleicht auch noch, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«
»Wofür hältst du mich? Für eine Nachrichtenagentur? Für den Gynäkologen?«
»Ich ruf sie sofort an.«
»Das lässt du schön bleiben. Dann bin ich geliefert!« »Doch, ich ruf sie an, aber sage nichts davon, dass ich Bescheid weiß.«
»In Ordnung. Aber wehe, du verplapperst dich! Dann lass ich dich vor allen Leuten irgendeine Schnulze singen. Wie war's mit Bianca y radiante va la novia?« Direkt nachdem Daniel sich von Humberto verabschiedet hatte, rief er Alicia an. Sie unterhielten sich eine halbe Stunde lang sehr liebevoll, und es gelang ihm, kein einziges Mal darauf anzuspielen, dass sie bald nach Spanien kommen würde - und auch nicht darauf, dass sich ihr Leben nun bald von Grund auf verändern würde. Am Ende sagte er: »Dann sehen wir uns also nächstes Wochenende in Grenoble?«
»Ja«, antwortete sie. »Jetzt bist du mal dran mit Fliegen.« Daniel war so aufgeregt wegen Alicias Kommen und ihrer Entscheidung für das Kind, dass er die andere Nachricht auf seiner Mailbox vollkommen vergaß. Sie war von Durán. Der rief ein paar Stunden später noch einmal an, verärgert, weil Daniel sich nicht gemeldet hatte. »Ich war im Gericht und konnte nicht ... Weißt du, was? Ich werde Vater!«
»Glückwunsch«, sagte Durán und versuchte nicht einmal, enthusiastisch zu klingen. Er war mit dem Kopf bei anderen Dingen und gratulierte Daniel in etwa so, als habe er im Lotto seinen Einsatz zurückgewonnen. »Marañón erklärt die Trauerzeit nach Thomas' Tod für beendet und hat wieder ein Konzert in seinem Haus organisiert. Diesmal sind wir beide offiziell eingeladen.« »Wann ist es?« »Morgen Abend.«
»So bald schon? Dann ist es wohl ein improvisiertes Konzert.«
»Ja, ganz und gar. Stell dir vor, er hat Isaak Abramowitsch dafür engagiert.«
»Das kann nicht sein«, antwortete Daniel. »Abramowitsch spielt morgen im Auditorio Nacional die drei letzten Klaviersonaten von Beethoven.«
»Er hat das Konzert dort abgesagt, weil die Direktorin ihm keine Proben am Morgen gestattet hat. Als Marañón das erfuhr, setzte er sich umgehend mit Abramowitschs Manager in Verbindung und bot ihm die doppelte Gage, wenn er in seinem Haus spielen würde.«
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