Die 10. Symphonie
sehen, lie ß das Pferd langsamer gehen und trabte dann zu ihr hinüber, mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. »Beatriz! Schon wieder gesund? Dein Vater hat mir erzählt, dass du ein paar gesundheitliche Probleme hattest.« »Meine Gesundheit braucht dich nicht zu interessieren, François, wohl aber die deines Pferdes. Mein Vater ...« »Dein Vater weiß viel über Pferde, das leugne ich ja gar nicht«, unterbrach sie der Reiter mit einer gewissen Härte. »Doch derjenige, der täglich vier Stunden auf Incitatos Rücken verbringt, bin ich.« »Ich weiß, aber ...«
»Lass mich ausreden. Ich bin es, der dafür verantwortlich gemacht wird, wenn das Pferd, wie letzte Woche während der Großen Quadrille, seine Bewegungen nicht absolut perfekt ausführt.«
Die Gro ße Quadrille mit den sechzehn besten Lipizzanern war die Starnummer des Spektakels, ein perfekt choreographiertes Pferdeballett, das zu den Klängen eines erstklassigen Kammerorchesters aufgeführt wurde. »Außerdem«, fügte er hinzu, »merkt man sofort, wenn ein Pferd ersch öpft oder nervös ist. Und schau ihn dir doch an - sieht er aus, als ginge es ihm nicht gut?« Beatriz schwieg und warf einen raschen Blick auf das Pferd. »Nein, dem Tier geht es gut. Aber bring es jetzt trotzdem sofort in den Stall.«
Robichon fand Beatriz' starken Charakter anziehend. Er sah sie als eine Art Wildstute, von der er glaubte, sie z ähmen zu können. Deshalb sagte er: »Ich bringe Incitato nur unter einer Bedingung in den Stall: Du steigst zu mir aufs Pferd und begleitest mich.«
»Glaubst du, ich habe Angst, aufzusitzen?«, fragte die junge Frau gelassen.
»Nein, ich glaube, dass ich es bin, vor dem du Angst hast.« Beatriz zögerte kurz.
»Na gut. Damit ich nicht ertragen muss, wie mein Vater eine Woche lang darüber tobt, was Incitato alles hätte zustoßen können, tu ich es. Warte, ich bin sofort unten.« Das Pferd war es nicht gewohnt, das Gewicht und die Bewegungen von zwei Menschen auf dem Rücken zu spüren. In dem Moment, als Robichon ihm die Sporen geben wollte, damit es sich in Bewegung setzte, bockte es deshalb urplötzlich, warf die Hinterbeine fast bis zum Balkon hoch, und Beatriz, die darauf nicht vorbereitet war, flog in hohem Bogen in den Sand der Reitbahn. Ein solcher Sturz endete meistens mit einem Bruch des Schlüsselbeins oder mehrerer Rippen, doch Beatriz stand sofort wieder auf und klopfte sich den Staub vom Kleid. »Hast du dir nichts gebrochen?«, fragte der Reiter besorgt. Er war vom Pferd gestiegen, um ihr aufzuhelfen. »Das hat ganz schön weh getan, aber mein Vater hat mir schon als Kind beigebracht, mich vom Pferd fallen zu lassen. Sonst hätte ich mir bestimmt den Schädel gebrochen.«
»Dieser verdammte Incitato hat immer noch nicht kapiert, wie man eine Dame behandelt.«
Robichon schlug das Pferd zur Strafe grob aufs Maul. Das gefiel dem Tier gar nicht, es bleckte drohend die Z ähne. »Und du hast immer noch nicht gelernt, wie man ein Pferd behandelt«, sagte Beatriz empört. »Es soll dich respektieren, nicht fürchten.«
Sie b ückte sich, um die Zügel aufzuheben - und das Pferd, das nach dem brutalen Schlag von Robichon in Abwehrhaltung war, erschrak und biss Beatriz in den Nacken. Die Wunde war harmlos, außerdem befürchtete Don Leandros Tochter, dass der Reiter wieder auf das Tier losgehen würde, weil es sie angegriffen hatte, also spielte sie den Vorfall herunter.
»Lass mich sehen, was er da gemacht hat«, sagte Robichon mehrmals.
»Er hat mich nur ganz leicht gekniffen. Incitato wollte mir nichts antun, sondern nur zeigen, dass er wütend war, weil du ihn geschlagen hast. Los, bring ihn jetzt endlich in den Stall.«
Der Reiter gehorchte und verabschiedete sich von Beatriz. Drei Tage lang sah er sie nicht mehr - bis sich ihr schlechter Gesundheitszustand in der Schule herumsprach.
Diesmal war das Leiden der jungen Frau keine List ihres Vaters, um die Burschen abzuschrecken, die sie manchmal umschwirrten. Nein, diesmal war es echt. Anfangs klagte Beatriz über Schmerzen beim Schlucken, dann wurde ihr Kiefer steif. Don Leandro ließ sofort den Palastarzt kommen, der eine sichere, unabänderliche Diagnose stellte. Clostridium tetani, wie das Tetanusbakterium auf Latei nisch hei ßt, sollte erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt werden, doch die Mediziner kannten den tödlichen Zusammenhang zwischen bestimmten Wunden und der Muskelstarre schon seit langem. Nachdem Beatriz' Vater die Diagnose gehört hatte
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