Die 10. Symphonie
früher oder später alle Papiere, die sie in ihrem Zimmer hatte, durchsuchen würde, um sich zu überzeugen, dass sie und der Musiker sich keine Briefe schrieben. Dann überlegte sie, es unter ihre Matratze zu schieben. Das schien ihr im Augenblick als das beste, wenn auch provisorische Versteck. Als sie sich hinkniete, um die Partitur unter die Matratze zu klemmen, bemerkte sie, dass eins der schweren Dielenbretter des Holzbodens in ihrem Zimmer lose war. Sie versuchte, es mit den Händen anzuheben, um zu schauen, wie viel Platz darunter war, doch dabei brach sie sich einen Nagel ab und zog sich einen Splitter in den Daumen, den sie sich mit einer Nähnadel entfernen musste. Wild entschlossen ging sie daraufhin hinunter in die Schmiede. Aus den Werkzeugen zum Beschlagen der Pferdehufe w ählte sie ein Stemmeisen, einen Hammer und eine Zange. So würde sie die Diele auf jeden Fall lösen können.
Sie hatte gerade angefangen, das Holz zu bearbeiten, als ihr Vater, irritiert durch die Hammerschl äge, ohne zu klopfen, in ihr Zimmer kam.
Beatriz war wie versteinert und wusste nicht, wie sie erkl ären sollte, was sie dort auf Knien und mit einem Schmiedewerkzeug in der Hand tat.
Der Tonfall und ein harter Zug um seine Mundwinkel verrieten, dass Don Leandro de Casas immer noch ver ärgert war.
»Darf man erfahren, was du da tust?« »Vater, wieso betretet Ihr mein Zimmer, ohne anzuklopfen?«
Der ignorierte ihre Frage und ging energischen Schrittes auf sie zu. Zwei Handbreit vor dem Dielenbrett, das sie anzuheben versuchte, blieb er stehen. »Ein loses Brett? Letzten Monat hätte mich so ein Ding fast umgebracht. Ich schicke einen der Burschen hoch, der soll es festnageln.«
Don Leandro musterte das Zimmer seiner Tochter mit einem schnellen, forschenden Blick und sah, dass der Tisch voller Partituren war.
»Ich habe heute Morgen mit Herrn Golerich gesprochen. Er hat mir gesagt, dass du beachtliche Fortschritte in Harmonielehre und Kontrapunktik machst.« »Ich habe einen guten Lehrer, Vater.« Sie hatte es kaum ausgesprochen, da wurde Beatriz klar, dass sie mit ihrer Antwort in ein Fettnäpfchen getreten war. Einen Moment lang schwebte der Geist Beethovens durch den Raum. Don Leandro runzelte die Stirn, machte kehrt und schloss die T ür mit so viel Schwung hinter sich, dass man es fast als Türenknallen interpretieren konnte. Beatriz hörte, wie er die Treppe hinunter in Richtung Haustür lief. Sie trat ans Fenster und vergewisserte sich, dass er wirklich das Gebäude verließ. Als er sich einige Meter Richtung Heldenplatz entfernt hatte, nahm sie ihre Arbeit an dem Dielenbrett wieder auf. Innerhalb von fünf Minuten schaffte sie es, das Holzbrett ein wenig anzuheben, und stellte fest, dass darunter in der Tat genügend Platz war, um das umfangreiche Manuskript Beethovens zu verstecken.
Sie zog die Partitur unter der Matratze hervor und legte sie in den Hohlraum, nagelte das Brett wieder fest und markierte die Stelle deutlich mit einem B, um auf keinen Fall zu vergessen, wo sich das Manuskript befand. Als sie hochzufrieden zu den St ällen ging, um die Werkzeuge zurückzubringen, hörte sie vom großen Sandplatz her ein Pferd wiehern.
François Robichon de la Gueriniere hatte Don Leandros Abwesenheit ausgenutzt und in krassem Widerspruch zu seinen Anweisungen - der Veterin är wollte nicht, dass die Reiter die Pferde ohne Grund übermäßig beanspruchten, weil sie dadurch anfälliger wurden für Verletzungen und Erkrankungen - Incitato II gesattelt. Er führte ihn in die beeindruckende Reithalle, die so elegant und majestätisch wirkte, dass sie vor nicht allzu langer Zeit während des Wiener Kongresses für die Festessen und Galaempfänge der Gesandten genutzt worden war. Sie war rechteckig, mit zwei Reihen weißer Balkone an den Seiten, in denen zehntausend Zuschauer Platz finden konnten. Tagsüber kam Licht durch die über zwei Dutzend Fenster an den L ängsseiten herein, und nachts erleuchteten Hunderte von Kerzen in den Armen der vier riesigen Kronleuchter, die unter der Decke hingen, das gesamte gigantische Szenario.
Jedermann in der Spanischen Hofreitschule wusste, dass die f ür Publikum offenen Dressurübungen der Lipizzaner morgens stattfanden und es den Reitern strengstens verboten war, die Pferde ohne die Erlaubnis Don Leandros nachmittags wieder herauszuholen. Deshalb rief Beatriz vom unteren Balkon aus: »Wenn mein Vater das erfährt, ist der Teufel los!«
Robichon hatte Beatriz nicht kommen
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