Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Augustinus wurde die Neugierde – die
curiositas
– negativ bewertet. Sie galt als Sünde, sie war überflüssig und sie drückte eine nicht zu tolerierende Einstellung gegenüber Gottes Schöpfung aus. In der Frühen Neuzeit beginnt sich diese Einstellung gegenüber der Neugierde radikal zu wandeln. Neugierde wird als Motor der Wissensproduktion und somit als Grundlage jeder Wissenschaft verstanden. Faust ist ein durch und durch neugieriger Mensch. Im Faust-Buch erfährt diese Neugierde eine durchwegs theologisch inspirierte und fundierte Interpretation. Demnach gilt die Neugierde als Sünde und jede Form, Wissen zu produzieren und Wissen zu erwerben, als problematisch. Insofern ist auch der Wille zum Wissen, jede Form des Erkenntnisdrangs sündhaft. Er ist Ausdruck einer menschlichen Hybris, die über den ihr von Gott zugedachten Rahmen im Plan seiner Schöpfung hinaus will, die nicht mehr bereit ist, sich mit dieser Positionierung abzufinden, die stattdessen sich auf den Weg der eigenen und eigenständigen Selbstbestimmung macht. Dass sich Faust mit dem Teufel einlässt, mit ihm diskutiert, sich mit ihm austauscht, ist der erzählerische Ausdruck für den Umstand, dass Wissen generell als teuflisch angesehen wird.
Der Zweck des Faust-Buches besteht demnach in einer radikal forcierten Didaxe. Es gilt, genau diesen Faust als warnendes Negativbeispiel vorzuführen, es ihm in seiner Neugierde, in seinem Erkenntnis- und Wissensdrang gerade nicht gleichzutun, weil man auf diesemWege unweigerlich dem Teufel verfallen müsse. Dass hier ein Rückzugsgefecht geführt wird, sieht man vielleicht am besten an Christopher Marlowes Drama
The Tragicall History of the Life and Death of Doctor Faustus
. Marlowe kannte das Faust-Buch. Er selbst arbeitete vielleicht schon ab 1588 an seinem Drama. Bei ihm wird aus dem abschreckenden Beispiel der Faust-Figur eine positiv bewertete Identifikationsfigur.
21. Kann Narrheit soziale Ordnung garantieren? Neben dem Faustbuch und dem Till Eulenspiegel liegt mit dem
Lalebuch
(1597) ein drittes Volksbuch vor, das es geschafft hat, bis in unsere Gegenwart zu wirken, allerdings unter einem anderen Namen: nämlich als
Schiltbürgerbuch
aus dem Jahr 1598. Die Ableitung des Namens aus dem Städtchen Schilda erfolgte erst in einer späteren Phase der Überlieferung. Zunächst meinte Schilt so viel wie Wappen und erklärt sich aus der Obsession dieser Schiltbürger für die Wappenkunde. Dass das
Schiltbürgerbuch
und nicht das
Lalebuch
mit seinem Namen eine Tradition begründen konnte, mutet nun selbst wie ein Schiltbürgerstreich an, denn es gibt erhebliche Abweichungen zwischen beiden Texten, und das
Schiltbürgerbuch
hat nicht nur einen anderen Charakter, sondern erreicht auch nicht mehr das konzeptionelle und formale Niveau, das das
Lalebuch
auszeichnet. Die Schiltbürger sind einfach nur dämlich, die Lalen hingegen sind Narren. Wieder einmal taucht die Narrheit als eine dominante Struktur der Frühen Neuzeit auf und macht deutlich, dass Narrheit aufs Engste mit Bildung und mit einem neuen Menschenbild korreliert ist. Narrheit wird hier eingesetzt als ein Instrument der Erhaltung sozialer Ordnung im Einklang zwischen Stand und Natur. Dass zudem diese Geschichte im Jahr 753, also mit einer Anspielung auf das Gründungsjahr Roms (wenn auch vor Christus) und im Königreich Vtopien spielt, verweist auf den Modellcharakter der Gemeinschaft der Lalen.
Lale meint so viel wie Schwätzer oder – positiv gewendet – Berater. Die Lalen heißen so, weil sie weise sind und diese Weisheit nutzen, um die Fürsten zu beraten. Die Tragödie der Lalen, mit der sie fertig werden müssen, beginnt, als einer der Vorfahren beschließt, Bauer zu werden, weil er nicht mehr bereit ist, fernab der Heimat an einem Fürstenhof zu leben. Damit allerdings kommt es zu einem Konflikt zwischen Weisheit und Bauernstand. Es stellt sich heraus, dass es nicht möglichist, zugleich eigenständig und weise zu sein. Ist man eigenständig, wird Weisheit dysfunktional. Mit einer fundamentalen Idee der Lalen endet die Vorrede des
Lalebuchs
und beginnt ihre Geschichte: Sie nutzen ganz weise die Narrheit, um den Konflikt zwischen Weisheit und Bauernstand aufzulösen. Vor diesem Kontext sind die Geschichten zu lesen, die man erst später als Streiche interpretiert hat, zum Beispiel wenn die Lalen versuchen, Licht in das dunkle Rathaus zu tragen, oder wenn sie Salz säen, um Salz zu ernten. Ihre Narrheit dient als Camouflage der
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