Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
vorsichtig – mit gutem Grund. Doch diesen schlechten Ruf hatte der Begriff des Volkes nicht schon immer. Gerade in der Romantik erlebt er eine erste kulturgeschichtliche Konjunktur. Der Begriff des Volksbuchs ist eine romantische Erfindung von Joseph Görres. Die Idee findet sich schon bei Johann Gottfried Herder, der sich die Aufgabe gestellt hatte, so etwas wie eine Volkspoesie historisch zu rekonstruieren. Joseph Görres hat 1807 eine Sammlung von 49 Volksbüchern unter dem programmatischen Titel
Die teutschen Volksbücher
herausgegeben (Nr. 35 ist das Volksbuch von D. Faust). Der Zu- oder Vorsatz «Volk» wird dabei vor allem als Gegenbegriff eingesetzt. Was aus dem Volk kommt und für das Volk bestimmt ist, ist eben keine Eliten-, keine Höhenkammliteratur und auch keine Gelehrtenliteratur.
Doch wenn wir heute von Volksbüchern sprechen, meinen wir keine romantische Literatur, sondern eher Literatur der Frühen Neuzeit, eine Literatur also, die schon den Buchdruck zu ihrer Verbreitungvoraussetzt. Gemeint sind damit beispielsweise der
Fortunatus
, die Geschichten von
Till Eulenspiegel
, das
Lalebuch
, das Buch der
Schiltbürger
,
Die schöne Magelone
,
Melusine
,
Genoveva
,
Ahasverus
oder eben auch die Geschichte vom Doktor Johann Faust:
Historia von D. Johann Fausten/dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler
(den gesamten, wahrlich schon barocken Titel kann ich hier gar nicht zur Gänze wiedergeben). Volksbuch meint also ein Buch, das weit verbreitet ist und daher auch die entsprechenden Voraussetzungen mit sich bringt. Zu nennen wären etwa die Fähigkeit, auch weniger gebildete Stände anzusprechen, daher auch einfache und vor allem unterhaltsame Geschichten zu erzählen, gleichzeitig aber ebenso eine praktische Moral zu vermitteln, die jedermann zu seinem Wohle erkennen muss.
Und auch dafür steht die
Historia
in ganz besonderer Weise exemplarisch. Besonders nachhaltig wird unser Faust-Bild heute von Goethes grandioser Doppeltragödie (erster Teil 1809, zweiter Teil 1832) überlagert. Goethes
Faust
ist ein exemplarisches menschliches Schicksal, Anthropologie
par example
und
par excellence
. Natürlich ist auch diese Dimension in der
Historia
angelegt, aber es ist eben nur eine Dimension. Uns heutigen Lesern ist diese andere Dimension vielleicht gegenwärtig durch eine andere, moderne Bearbeitung dieses Stoffes, wohl fast ebenso prominent wie die Goethes, nämlich Thomas Manns Roman
Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn
(1947). Dass Thomas Mann in seinem Selbstverständnis sich als Goethe-Nachfolger fühlte und damit auch auf einen, ja vielleicht
den
Goethe’schen Stoff schlechthin, den Faust-Stoff, zurückgriff, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
Historia
des Volksbuchs als intertextuelle Folie für Thomas Manns Roman wichtiger ist als Goethes Faust.
20. Ist Neugierde sündhaft? Die einfache Frage verweist im Grunde auf einen Epochenumbruch, an dem sich zwei gewaltige Kräfte gegenüberstehen: auf der einen Seite der Wissensdrang des Menschen und auf der anderen Seite die moralische Ordnung der Welt, die zu Recht in der Neugier eine Gefahr erkennt und sie deswegen als Sünde ausgibt.
Die
Historia von D. Johann Fausten
ist 1587 gedruckt worden. Verleger war ein Johann Spies, der etwas ungenau auch bisweilen als Autor bezeichnet wird. Die
Historia
ist kein Roman und kein fiktives Werk. Die Figur des Faust wird als historische Person behandelt.Dennoch ist die
Historia
alles andere als realistisch. Wenn es eine reale Figur gegeben hat, so hat diese vermutlich in ihrer Biographie bestimmte Elemente vereinigt, wie zum Beispiel eine akademische Laufbahn, vielleicht besondere intellektuelle Fähigkeiten oder eine auffallende Neugier in wissenschaftlichen Fragen. Das Faust-Buch greift dies auf und reagiert damit auf eine bestimmte frühneuzeitliche Umbruchssituation. Es setzt bei den neu entstehenden Wissenschaften und dem Versuch des Menschen an, immer mehr systematisches Wissen über seine Welt zu erwerben. Das Buch ist insofern Ausdruck eines radikalen epistemologischen Umbruchs; es kommt zu einer Neubewertung des Wissens. Für das Faust-Buch ist Faust ein Exponent dieser neuen Wissensordnung. An ihm wird deutlich, dass dieser Wissensdrang nicht nur die soziale Ordnung, sondern auch das individuelle Schicksal und das Seelenheil des Menschen gefährden kann.
Insbesondere wird dabei auf die Neugierde angespielt. In einer langen europäischen Tradition seit
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