Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
darin, dass es dieselbe Form benutzt, nämlich die des Sonetts, um sich über die Gestalt und seine Produktion kräftig zu ärgern. Dabei wird aber erstens deutlich, dass selbst die Abkehr vom Sonett immer noch ein Sonett hervorbringen kann, und zweitens, dass genau das, was das lyrische Ich so ärgert, auch diejenige Eigenschaft ist, die dem Sonett eine solch lange Tradition beschert hat: nämlich das Enge und Rigide, oder anders und etwas positiver formuliert: die klare Form der gebundenen Sprache der Lyrik. Man kann vielleicht sogar so weit gehen und behaupten, dass es ebendiese klare gebundene Form ist, die das Sonett zum Musterfall, zum Paradigma lyrischer Dichtung schlechthin macht und ihm gerade dazu verhilft, die Zeiten zu überdauern.
Dennoch weist das Sonett in seiner Geschichte zahlreiche Varianten auf. Sein Name soll von dem lateinischen
sonus
kommen und auf den Klang anspielen, den das Sonett eben aufgrund seiner klar gebundenen Sprache erzeugt. Entstanden ist es schon sehr früh, vermutlich im Italien des 13. Jahrhunderts. Es hat sich über ganz Europa verbreitet und dabei vor allem auch ländertypische Formen in Italien, Frankreich, Spanien oder Deutschland (sofern man hier von Deutschland sprechen will) ausgebildet. In der Regel hat das Sonett vierzehn Verse, die zumeist in zwei Quartette (Vierzeiler) und anschließend in zwei Terzette (Dreizeiler) gegliedert sind. Im deutschen Bereich hat der Vers zwölf oder dreizehn Silben (man spricht dann von einer männlichen bzw. weiblichen Endung), davon sind sechs betont. Diese Struktur nennt man einen Alexandriner.
Das Sonett wird gerade im Barock zu einer so beliebten Form, weil sie es überhaupt erst ermöglicht, den relevanten Ideologemen der Zeit – also dem
vanitas
-Gedanken oder dem Konzept des
memento mori
und des
carpe diem
und nicht zuletzt der Verbindung beider – zu einem ästhetischen Ausdruck zu verhelfen. So weist beispielsweise gerade der Alexandriner mit seinen sechs Hebungen eine Zäsur nach den ersten drei Versfüßen auf, was es erlaubt, zwei Sachverhalte entweder reihend und sich steigernd oder aber antithetisch einander zuzuordnen. So heißt es beispielsweise in Andreas Gryphius’ Gedicht
Thränen des Vaterlandes
aus dem Jahre 1636: «Wir sind doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret!» Oder in dem Gedicht
Es ist alles Eitel
vom selben Autor finden sich die Verse: «Was dieser heute bawt/reist jener morgen ein:/Wo itzund städte stehn/wird eine wiesen sein». Die poetische Form ist selbst Teil einer rhetorischen Argumentation geworden – und dies zu gewährleisten schafft in besonderer Weise das Sonett.
Denn der (oder auch: das) Barock ist ein Zeitalter der zum Teil extremen Spannungen, die wiederum das Denken bestimmen, zum Beispiel zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Lust und Leid, zwischen Lebensbejahung und Lebensverneinung, zwischen Lebenswille und Resignation. Genau in diesem Kontext bildet sich eine der wichtigsten Denkstrukturen des Barock aus, der
vanitas
-Gedanke, demzufolge alles eitel, das heißt, alles hoffnungslos ist. Heutzutage würde man sagen, Eitelkeit ist ein Ausdruck für eine extreme Kontingenz-Erfahrung bei drastisch fehlender Nachhaltigkeit in allenmenschlichen Belangen und Aktivitäten. Eitelkeit ist somit eine negative Norm, die sich zugleich als zeitdiagnostisches Instrument anbietet. Daher kann man die
vanitas
-Texte als Zeitdiagnosen lesen. In diesen Kontext gehören auch die beiden Konzepte des
carpe diem
(nutze den Tag) und des
memento mori
(gedenke des Todes) – gerade in ihrer Gegenläufigkeit. Denn es gibt ja kaum eine Epoche, die offenbar so klare ideologische Strukturen aufweist wie der Barock und die andererseits so schwierig auch als literaturgeschichtliche Epoche zu definieren ist. Der Begriff des Barock meint zunächst eine schiefrunde Perle. Erst im 19. Jahrhundert wird ein Epochenbegriff für Kunst, Architektur und dann auch Literatur geprägt. Der Mensch ist in einen übergeordneten ideologischen Rahmen gestellt, der durch Religion vorgegeben ist und der sich in einer tiefen und unangezweifelten Gläubigkeit ausdrückt. Der Mensch steht in einer großen kosmologischen und fundamentalen, aber gleichzeitig theologisch fundierten Ordnung, die alles umspannt und gleichzeitig jeden Lebensbereich durchdringt. Das ist der
ordo
-Gedanke des Barock, der sich auch und gerade im Sonett formal ausdrückt. Und dennoch haben dieser Rahmen und diese Ordnung durch die historischen
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