Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Verbrechen deutlich. Es geht darum herauszubekommen, warum jemand zum Verbrecher wird. Dabei werden erstmals psychische und soziale Faktoren in Rechnung gestellt. Für Schiller war der verbrecherische Charakter interessanter als der gute, und diesen Umstand musste er in Verbindung mit einer Vorgabe bringen, der zufolge Kunst auch Moral durchzusetzen hatte. Gerade am Verbrecher, so seine Überlegung, könnte man die Funktionsweise eines Menschen studieren, daher seien diese verbrecherischen und bösen Charaktere für die Kunst so wichtig. Wo es bei ihm noch um einen Einblick in den inneren Mechanismus des Menschen ging, hatte sich der Blick im 19. Jahrhundert schon gewandelt. Und ein schönes Beispiel dafür ist die Novelle der Droste,
Die Judenbuche
, die 1842 erstmals erschien. Sie trägt den Untertitel
Ein Sittengemälde aus dem Gebirgichten Westfalen
, der von der Droste selbst stammt, den heute bekannten Haupttitel hat der Verleger treffsicher über den Text gesetzt. Diese Novelle erzählt die Geschichte des Friedrich Mergel, der 1738 geboren wurde. Er ist ein Kind aus ärmlichsten und schwierigsten Verhältnissen. Erzählt wird in dieser Geschichte, wie im Zusammenspiel des sozialen Milieus, der fehlenden Erziehung, aber auch der Eingebundenheit in die Umgebung, die Landschaft und die Natur, sich ein verbrecherischer Charakter entwickeln kann. Nachdem Mergel von Aaron auf einer Hochzeit gedemütigt wurde, als dieser die Schulden eintreiben will, tötet er diesen und flieht. Die Juden kaufen den Baum, unter dem Aaron getötet wurde, und bringen eine hebräische Schrift an. Sie lautet:«Wenn Du Dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.» Das ist zugleich der letzte Satz der Novelle, der zuvor schon auf Hebräisch abgedruckt war. So kommt es auch: Mergel kehrt nach 24 Jahren – in der Tat: abgemergelt – zurück und erhängt sich an der sogenannten Judenbuche. Das ist das Spannende und zugleich Zeittypische dieser grandiosen Erzählung aus dem 19. Jahrhundert. Hier scheint ein mysteriöses Fatum zu walten, die den Täter an den Ort seiner Tat zurücktreibt, um ihn dort sühnen zu lassen. Doch was es mit diesem Fatum auf sich hat, wird vom Text nicht beantwortet. Der Text bleibt bei der äußeren Wirklichkeit und macht gerade dadurch Bedingungsfaktoren hinter dieser Wirklichkeit sichtbar.
69. Dürfen Thronfolger Bürgerliche heiraten? Die Frage, ob Adelige Bürgerliche heiraten dürfen, war vielleicht noch vor einigen Dekaden in den Häusern des europäischen Hochadels ein Thema, das die Boulevardpresse gerne aufgegriffen hat, weil man daraus so wunderschöne Geschichten im Spannungsfeld zwischen Liebe und Staatsraison stricken konnte. Im späten Mittelalter war es allerdings eine Frage auf Leben und Tod, und eines der berühmtesten Beispiele dafür lieferte Agnes Bernauer, die Augsburger Baderstochter, die die Geliebte und die Ehefrau des bayerischen Herzogs Albrecht wurde. In den Augen von Albrechts Vater, des regierenden Herzogs, war diese nicht standesgemäße Heirat nicht tragbar, und so ließ er Agnes Bernauer (deswegen!) zum Tode verurteilen und ertränken. Friedrich Hebbel machte daraus ein beeindruckendes Drama, das zwei Beziehungen in den Mittelpunkt stellt, die Beziehung von Mann und Frau und die Beziehung von Vater und Sohn. Und beide Beziehungen werden in einen doppelten Horizont gestellt, von Adel und Bürgertum bzw. von Staatsraison und individueller Liebe. Deswegen hat man auch davon gesprochen, dass das Drama in zwei Teile zerfällt, ein Liebesdrama und ein Geschichts- bzw. Staatsdrama. Aber die eigentliche Pointe besteht ja gerade darin, diese beiden Sphären zu verknüpfen.
Agnes wurde hingerichtet, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. Aber die Hinrichtung bringt Albrecht dazu, das Land mit Bürgerkrieg zu überziehen, und sein Vater Ernst billigt das auch noch. Als Albrecht Dörfer niederbrennt, sagt er: «Das ist er! So hat die Wut den Schmerz besiegt! Nun wird alles gut!
(Rufend.)
Nur zu, mein Sohn, nur zu! Je ärger, je besser!» Und muss sich darauf zu Recht vonseinem Höfling Preising vorhalten lassen: «Aber das wolltet Ihr ja eben verhüten!» Das ist ein Hinweis darauf, dass es um mehr geht als nur darum, einen Bürgerkrieg zu verhindern. Die Konfliktkonstellation ist so angelegt, dass hier zwei Werte unvermittelt und unvermittelbar gegenüberstehen. Auf der einen Seite gibt es die Liebe zwischen Agnes und Albrecht, und das ist eine absolute Liebe,
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