Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
losgelöst von allen politischen und dynastischen Anforderungen. Auf der anderen Seite steht das dynastische Interesse, das gleichermaßen nicht relativiert werden kann. Denn es geht hier um nicht weniger als um den Fortbestand des Staates und damit um das Wohl und Wehe und vielleicht um das Überleben der Menschen in diesem Staat. Beide Werte können nicht gleichermaßen verwirklicht werden, sie können aber auch nicht gegeneinander abgewogen oder gegeneinander ausgespielt werden.
Und das ist die geniale Konstruktion, die Hebbel in seinem Drama entfaltet. Ernst löst das Problem, indem er einen Justizmord begeht. Die eigentliche Pointe des Dramas besteht nun darin, dass Ernst selbst diesen Justizmord als solchen anerkennt und dafür auch die Verantwortung übernimmt. Dadurch kann er die Unbedingtheit der Liebe seines Sohnes zu Agnes anerkennen, ohne deswegen den Wert, für den er steht, nämlich die Staatsraison, aufzugeben. Für dieses Verfahren zahlen alle einen extrem hohen Preis, Agnes sogar mit ihrem Leben.
Realismus
70. Was sollen die Gespenster im Realismus? In Theodor Storms (1817–1888) Novelle
Der Schimmelreiter
, die im Jahr 1888 erschien, tritt ein waschechtes Gespenst auf, nämlich der titelgebende Schimmelreiter. Es war die letzte Novelle, die Storm vollständig ausarbeiten konnte, und es war zugleich seine größte und wichtigste Novelle. Storm hat zeit seines Lebens Gespenstergeschichten gesammelt und sogar ein Gespensterbuch geplant. Gleich zu Beginn der Novelle gibt es einen autobiographischen Hinweis: Dort ist von der Urgroßmutter Feddersen zu lesen, bei der der junge Rahmenerzähler diese Geschichte erstmals in einer Zeitschrift liest – und Feddersen hießen auch Großmutter und Urgroßmutter von Storm. Eine solche Lektüresituation kann durchaus authentisch sein – und möglicherweise ist so Storm zu der Sammlung seiner Gespenstergeschichten gekommen, vielleicht hat er sie sich aber auch von alten Frauen oder von Schulmeistern erzählen lassen, wie sie ebenfalls in der Novelle auftreten. In der Novelle werden diese beiden Figuren gegenübergestellt. Der Schulmeister ist der Aufklärung und der Bildung verpflichtet, wo man der alten Wirtschafterin Antje Vollmers eher den Zugang zu dem Gespenstischen, Mysteriösen, Irrationalen zutraut. Wie kann es dann sein, so könnte man sich fragen, dass in der Erzählung des rationalistischen Schulmeisters, dass auch in dieser wunderbaren markanten realistischen Novelle ein Gespenst vorkommt? Was kann man daraus über den literarischen Realismus lernen?
Solche Gespenstergeschichten hat es schon in der Romantik gegeben. E.T.A. Hoffmann beispielsweise hat Novellen geschrieben, die ihm den Spitznamen Gespenster-Hoffmann eingebracht haben. Es scheint also eine Entwicklungslinie von der Romantik bis in den Realismus zu geben, was die Frage verschärft, inwiefern man gerade am Gespenstischen etwas über den Realismus lernen könnte. Um noch ein anderes, nicht weniger berühmtes Beispiel zu nennen: jenes kleine Abziehbild, das einen Chinesen zeigt und am Bett einer jungen, frisch verheiraten Frau klebt, die sich in ihrer Ehe und an ihrem neuen Wohnort nicht wohlfühlt und die bei ihrem Ehemann keinen Schutz und keine Beruhigung findet, weil er es ist, der massiv zu ihrer Beunruhigung beiträgt. Die Rede ist von Effi Briest und dem gleichnamigen Roman von Theodor Fontane aus dem Jahr 1895.Das Gespenst dieses Chinesen läuft offenbar immer über den Dachboden und erzeugt irritierende Geräusche, die Effi nachts stark ängstigen. Dass der Spuk so gut wirken konnte, war natürlich von ihrem Ehemann perfekt und perfide vorbereitet, indem er ihr die Geschichte des fremdartigen Chinesen erzählt, was Effi «gruselig» findet. Später wird sie ein Damenmann, der Major Crampas, über das erzieherische und sadistische Kalkül aufklären, das ihr Mann mit solchen gespensterhaften Beunruhigungen verfolgt. Und dennoch bleibt etwas Gespenstisches von diesem Chinesen übrig, und man fragt sich auch hier, was ein solches Gespenst in einem realistischen Roman zu suchen hat.
Zunächst muss man die Begriffe Realismus und Realität unterscheiden. Der Realismus erschöpft sich nicht in einer realistischen Abbildung von Realität. Ja, man kann sogar sagen, dass der Realismus in dieser Hinsicht sogar unrealistisch ist. Es geht in erster Linie nicht darum, mit Hilfe von literarischen Verfahren der genauen Beschreibung ein literarisches Abbild von Realität zu schaffen. Vor
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