Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
diesem Hintergrund kann man die beiden wesentlichen ästhetischen Prinzipien erklären, die den literarischen Realismus charakterisieren und die ihm einen doppelten Namen gegeben haben: poetischer und bürgerlicher Realismus. Beide Prinzipien hängen zusammen. Poetischer Realismus meint, dass das literarische Verfahren zur Beschreibung und Abbildung einer sozialen Realität poetisch sein, also durchaus ästhetischen Ansprüchen genügen muss. Das bedeutet aber auch, dass aus dem Bereich des Erzählbaren alles ausgeschlossen wird, was diesem Prinzip entgegenstehen könnte. Insofern wird im poetischen Realismus keine Realität geschildert, die extrem hässlich, abstoßend oder ekelhaft ist und ästhetische und moralische Prinzipien verletzt. Damit engt sich die Perspektive auf die soziale Realität deutlich ein. Eine zweite Perspektivenverengung ergibt sich durch das andere Prinzip. Soziale Realität ist bürgerliche Realität. Im Realismus nun verbinden sich diese beiden Sphären: Die Schilderung einer bürgerlichen Sphäre (soziale Realität) und die Poetik der Schilderung sind untrennbar miteinander verbunden. Das Gespenst ist nun ein poetisches Instrument, um bestimmte Strukturen und Prozesse der sozialen Ebene, der bürgerlichen Sphäre, transparent zu machen, nicht zuletzt kapitalistische oder eheliche Krisen.
71. Wie bereitet Stifter den Realismus vor? Adalbert Stifter (1805–1868) gilt als biederer, vielleicht sogar als langweiliger Dichter. In seinen Novellen werde das Beschauliche gefeiert, in seinem umfangreichen Bildungsroman
Der Nachsommer
(1857) passiere so wenig, dass es den Leser ermüde, so könnte ein Urteil lauten. Dazu mag vielleicht auch ein falsches Verständnis seines Wortes vom «sanften Gesetz» beigetragen haben, das er im Vorwort seiner Erzählsammlung
Bunte Steine
(1853) erläutert:
Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird. […] Es liegt in der Liebe der Ehegatten zu einander, in der Liebe der Eltern zu den Kindern, der Kinder zu den Eltern, in der Liebe der Geschwister, der Freunde zueinander, in der süßen Neigung beider Geschlechter […] So wie in der Natur die allgemeinen Gesetze still und unaufhörlich wirken und das Auffällige nur eine einzelne Äußerung dieser Gesetze ist, so wirkt das Sittengesetz still und seelenbelebend durch den unendlichen Verkehr der Menschen, und die Wunder des Augenblickes … sind nur kleine Merkmale dieser allgemeinen Kraft.
Dies könnte man biedermeierlich als eine Beschränkung auf das kleinbürgerliche Glück missverstehen. Tatsächlich aber geht es Stifter vielmehr um Fragen, die den Realismus als Literatursystem insgesamt umtreiben, nämlich vor allem um die geradezu soziologisch anmutende Frage, wie gesellschaftliche Ordnung überhaupt möglich sei, wie sie erhalten werden könne und welche Rolle dabei die Natur und die Landschaft spielten. Dass sie eine Rolle spielen, das hält Stifter für eine Gesetzmäßigkeit, die er in den Erzählungen offenbar machen will, so dass diese Gesetzmäßigkeit zugleich als erzählerisches Prinzip fungiert.
Tatsächlich ist Stifter einer der großartigsten Erzähler des Realismus, auch wenn man ihn nicht vorrangig als realistischen Erzähler rezipiert hat. Ein Beispiel soll vorgeführt werden, das diesen Umstand besonders prägnant zum Ausdruck bringt. Es handelt sich um eine Erzählung, die in zwei Fassungen vorliegt. Wenn man sich die beiden Versionen anschaut und die Änderungen, die die spätere Fassung gegenüber der ersten aufweist, kann man darin jene Tendenzen erkennen, die auf den Realismus zulaufen. Gemeint ist die Erzählung
Das Haidedorf
, mit der – neben dem
Condor
und den
Feldblumen
– Stifter die literarische Bühne sehr erfolgreich betritt.
Der Condor
wird im April 1840 in der
Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode
veröffentlicht,
Das Haidedorf
schon im Juli. Wie bei allen seinen Erzählungen hat Stifter auch diese Erzählung, als sie als Buch veröffentlicht werden sollte, umgeschrieben. Deswegen spricht man auch von den Journal- und den Buchfassungen seiner Erzählungen. Zwischen den beiden Fassungen vergehen nur vier Jahre, aber in diesem Fall fällt die Umschrift sehr radikal aus, weil sie der Erzählung ein anderes Ende verleiht.
Der Text in seiner frühen Fassung erzählt eine erfolgreiche Sozialisationsgeschichte, die späte Fassung eine gescheiterte. Ein junger Mann, Felix, wächst in der Heide und im
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