Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
polizeiliche Verfolgung hätte gewärtigen müssen, im französischen Exil, wollte aber seine Mutter und seinen Verleger Julius Campe in Hamburg besuchen. Die Reise führt ihn nach dem Grenzübertritt durch Norddeutschland über Köln, den Rhein, Mülheim, Hagen, Detmold, Paderborn, Minden, Bückeburg, Hannover, bis er schließlich nach Hamburg kommt. Alle Stationen sind mehrdeutig; sie repräsentieren immer auch einen Aspekt, der dieses Deutschland charakterisiert. Als er einschläft, träumt er von Kaiser Barbarossa, der ein senilerGreis ist und mit dessen Hilfe Heine einen deutschen Ursprungsmythos zerstört. In Hamburg beispielsweise trifft er die verkörperte Stadt Hammonia, die eine Prostituierte ist. Sie zeigt ihm – beziehungsweise lässt ihn riechen – Deutschlands Zukunft, die – sit venia verbo – beschissen ist. Es ist der Nachttopf Karls des Großen, den Hammonia schnell wieder verschließt, bevor sie ein heftiges Liebesabenteuer mit dem Erzähler erlebt. Es ist eine bitterböse Abrechnung mit Deutschland, aber ein solcher Text beweist auch, dass Heine nicht von Deutschland loskommt.
Das literaturgeschichtlich Neue aber besteht darin, dass Deutschland überhaupt ein Thema wird. Das wäre wenige Jahrzehnte zuvor noch nicht möglich gewesen. Natürlich hat man auch zu früherer Zeit über Deutschland gesprochen und beispielsweise über nationale Institutionen, doch das Politische dieses Begriffs in dieser Dimension ist absolut neu. Die Bewegung von Schriftstellern, die diese politische Dimension der Idee Deutschlands aufgreift, nennt man das
Junge Deutschland
und ihre Literatur die Literatur des Vormärz. Damit ist vor allem die literaturgeschichtliche Phase zwischen 1830 und (der März-Revolution des Jahres) 1848 gemeint. Hierzu lassen sich Autoren wie Heine, aber auch Ludwig Börne, Heinrich Laube, Karl Gutzkow, Theodor Mundt zählen. Bisweilen rechnet man sogar den jungen Georg Büchner dazu. Allerdings darf man nicht übersehen, dass diese Autoren niemals eine Vereinigung waren oder als geschlossene Gruppe aufgetreten sind. Heine und Börne, anfangs befreundet, später zerstritten, konnten die Situation nur aus dem Pariser Exil betrachten. Doch zusammengenommen machen sie deutlich, dass diese Form des politischen Engagements der Literaten und der Literatur die kulturellen und nationalen Koordinaten nach der Goethezeit grundlegend verändert hatte.
67. Ist es gottlos, eine nackte Frau anzuschauen? Karl Gutzkow (1811–1878) war sicherlich einer der prominentesten Vertreter des Jungen Deutschland. An seinen Arbeiten wird die gesamte Bandbreite ersichtlich, die dieses neue Rollenprofil des Schriftstellers zwischen Dichter, Publizist, Journalist, Philosoph und auch Intellektuellem abdeckte. So hat sich Gutzkow auch mit Fragen der Religion auseinandergesetzt. Wie konservativ und rückwärtsgewandt die restaurativen Zeiten auch immer gewesen sein mögen, darf man sich doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die europäischen Gesellschaftenin einem tiefgreifenden Wandlungsprozess befanden. Mit der Entstehung neuer gesellschaftlicher Strukturen, durch die die alte ständische Ordnung mehr und mehr an Bedeutung verlor, wandelte sich auch die Funktion von Kunst und Religion in nachdrücklicher Weise.
Gutzkows Roman
Wally, die Zweiflerin
kann als Reflex auf solche Veränderungen gelesen werden. Wally ist zu Beginn des Romans eine sehr junge und gebildete Dame aus den besseren Kreisen. Wenn der Romantitel sie als Zweiflerin bezeichnet, so ist damit der Zweifel an der Religion gemeint. Das war ein heißes Eisen, und wer sich den Roman mit seiner ursprünglichen Seitengestaltung ansieht, kann dies auch heute noch erkennen. Die Seiten sind so großzügig gestaltet, dass man annehmen kann, es ginge hier darum, möglichst viel Platz zu verbrauchen. Und tatsächlich war es so. Im Zuge der Karlsbader Beschlüsse, mit denen die Restaurationszeit im Deutschen Bund ab 1819 zementiert wurde, wurde auch eine 20-Bogen-Klausel erlassen. Sie besagte, dass alle Bücher unter 20 Bogen der Zensur unterworfen werden mussten. 20 Bogen entsprachen 320 Seiten. Man ging davon aus, dass Bücher mit mehr als 320 Seiten wohl ungefährlicher seien, weil man sie – vielleicht – ohnehin nicht lesen würde. Es kam also darauf an, um die
Wally
an der Zensur vorbei zu publizieren, den Roman auf über 320 Seiten zu strecken. Der Originaldruck hatte dann genau 326 Seiten. Genutzt allerdings hat es nichts. Das Buch wurde doch
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