Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
verboten und beschlagnahmt. Gutzkow musste dafür sogar sechs Wochen ins Gefängnis.
Gutzkow hat sich intensiv mit dem Manuskript der Fragmente des Wolfenbüttler Ungenannten auseinandergesetzt. Gemeint sind damit Schriften von Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), der die Religionskritik schon im 18. Jahrhundert vorweggenommen hatte. Bereits Lessing hatte in seiner Zeitschrift
Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel
mehrere Fragmente veröffentlicht und sich damit erheblichen Ärger eingehandelt (siehe Frage 40). Gutzkow packte seine Veröffentlichung in einen Roman.
Wally trifft auf Cäsar, einen jungen (knapp 30 Jahre alten), eleganten und gebildeten Baron, der Wally erheblich durcheinanderbringt, indem er zynisch und sehr kritisch über Religion spricht. Beide behaupten, sie wären nicht ineinander verliebt, und sind es stillschweigend eben doch, aber ihre Liebesgefühle sind nicht wirklich synchronisiert.Und so gehört es zu ihrem Schicksal, dass dann, wenn der eine Partner bereit für eine Liebesbeziehung wäre, der andere eher ablehnend reagiert. Als Wally Cäsar gesteht, sie werde den sardinischen Gesandten heiraten, ist Cäsar sehr verstört. Er macht Wally ein unmoralisches Angebot, sie solle sich ihm nackt zeigen. Wally ist empört und zeigt sich später doch. So trennen sich die Wege der beiden, zumindest vorerst. Die Ehe Wallys mit dem Gesandten besteht nur auf dem Papier, doch sein Bruder Jeronimo verliebt sich in Wally, was unerwidert bleibt, so dass er sich vor ihrem Fenster erschießt. Das verstört Wally erheblich, und sie beschäftigt sich immer intensiver mit Fragen der Religion und ihrer eigenen Religiosität. Von Cäsar erhält sie jene religionskritischen Manuskripte – Gutzkow hatte den Roman als Rahmen entworfen, innerhalb dessen er diese Fragmente publik machen konnte. Diese Lektüre stürzt sie immer tiefer in die Depression, bis sie sich am Ende umbringt. Über die Nacktszene – in der ersten Fassung von Gottfried Kellers
Grünem Heinrich
findet sich eine ähnlich gestaltete Szene – gehen wir heute fast schon gelangweilt hinweg. Seinerzeit war sie ein Skandal, und die Verbindung mit der Religionskritik im Roman war für die Zensur ein untrügliches Anzeichen dafür, wie Unmoral und Atheismus zusammengingen. Doch genau andersherum wird ein Schuh daraus: Moral und Religion sollen in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit durchschaubar werden.
68. Warum wird ein Mensch zum Verbrecher? Die Literatur interessiert sich sehr für Verbrecher und Verbrechen. Das Kriminalsujet gehört zu den wichtigsten Themen der Literatur neben Liebe und Sexualität, Individuum und Gesellschaft, Tod und Sterben. Immer schon gab es eine forensische Neugier am Verbrechen und mithin am Abseitigen, Perversen und Kranken der Gesellschaft. Daraus resultiert eine enge Verwandtschaft zwischen Jurisprudenz und Literatur. Es gibt einen Bereich, da haben es beide mit Verbrechen zu tun, weil ihnen darum zu tun ist, verbrecherische Taten aufzuklären und durchschaubar zu machen. Sammlungen von Verbrechensdarstellungen gibt es eine Reihe in der Literaturgeschichte, zum Beispiel den berühmten
Pitaval
. Francois Gayot de Pitaval (1673–1743) hatte eine zwanzigbändige Ausgabe von Strafrechtsfällen herausgegeben. Noch heute hat dieses Genre Konjunktur, wenn man beispielsweise an die Erzählungen des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach in unseren Tagen denkt (
Verbrechen
2009,
Schuld
2010).
Schon Schiller hatte 1786 eine Erzählung unter dem Titel
Verbrecher aus Infamie
, später mit
Verbrecher aus verlorener Ehre
überschrieben, veröffentlicht, die auf einen wahren Kriminalfall und mehrere Berichte darüber zurückgeht. Dasselbe macht im 19. Jahrhundert Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848): Sie greift ebenso einen historischen Kriminalfall auf, in den ihre Vorfahren sogar als Gerichtsherren involviert waren. Es ging dabei um den Mord an einem Juden; dieser war 1782 von dem Knecht Hermann Winkelhanns bei Paderborn im Wald erschlagen worden. Der Onkel der Droste veröffentlichte 1818 einen umfassenden Bericht unter dem Titel
Geschichte eines Algierer-Sklaven
. Der Titel spielt auf den Umstand an, wonach der seinerzeit Schuldige nach der Tat geflohen ist und 24 Jahre durch die Welt irrte, unter anderem in Algerien in Sklaverei geriet. Als er in seine Heimat zurückkehrte, erhängte er sich bald danach.
Schon bei Schiller wird ein modernes Interesse am
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