Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Kreis seiner Familie auf, zieht in die Welt und kommt verwandelt zurück. Die beschauliche Heidewelt ist kein geschützter Raum; Naturkatastrophen wie eine Trockenheit können genauso über sie kommen wie Modernisierungsprozesse. Als Felix zurückkommt, bleibt er ein Fremder in der Dorfgemeinschaft. Doch in der ersten Fassung kommt der König vorbei und adelt ihn gewissermaßen, weil er ihn als Dichter schätzt, und Felix’ Prophezeiung, es werde am Pfingstsonntag regnen, erweist sich als richtig. In der zweiten Fassung haben sich die Koordinaten völlig verändert. Sobald Felix wieder in der Dorfgemeinschaft lebt, muss er sich den gesellschaftlichen Bedingungen anpassen. Eine königliche Bestätigung kann er nicht mehr erwarten. An die Stelle der königlichen Adelung, der ‹Verköniglichung›, ist vielmehr die Arbeit als Wert getreten, der aus den gesellschaftlichen Veränderungen resultiert und der nunmehr für jedes Lebensmodell verbindlich und unabdingbar ist.
Und dann lässt sich daraus auch etwas ablesen, was das veränderte Bild des Schriftstellers im Realismus betrifft. In der Journalfassung war der Schriftsteller noch ein Außenstehender, wenn man so will, ein A-Sozialer. In der Buchfassung wird dagegen ein Bild des Autors gezeichnet, der sich ausschließlich über seine soziale Funktion definieren muss. An die Stelle des Autors als Schöpferinstanz tritt dann – in perspektivischer Verlängerung – der Chronist oder Dokumentarist. Das Prinzip jener Umschreibung von der Journal- zur Buchfassung im Falle der Erzählung
Das Haidedorf
lässt genau jene Grundstruktur hervortreten, die dann für den bürgerlichen Realismus maßgeblich wird.
72. Warum erzählt Keller die Geschichte von Romeo und Julia ein zweites Mal? Diese Frage scheint Gottfried Keller (1819–1890) selbst beschäftigt zu haben. Gleich im ersten Satz der Novelle gibt er einen Grund an: «Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in die Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten.» So beginnt Gottfried Kellers Novelle
Romeo und Julia auf dem Dorfe
, die 1856 zum ersten Mal im Novellenzyklus
Die Leute von Seldwyla
erschienen ist. Seldwyla ist ein erfundenes kleines schweizerisches Dorf, das Keller zum literarischen Modellfall für jene sozialen Strukturen macht, die er in seinen Novellen schildern will.
Vergleicht man Shakespeares Text mit dem von Keller, so erkennt man wesentliche Unterschiede selbst in der abstrakten Anlage der Erzählung. So ist bei Shakespeare der Grund für den Familienzwist überhaupt nicht mehr auszumachen, weil er in dunkler Vorgeschichte liegt. Bei Keller hat der Zwist einen handfesten Anlass, den Streit zweier Bauern um Ackerland, das sie sich widerrechtlich angeeignet haben. Es gibt also einen ökonomischen, einen kapitalistischen Grund. Als sich die beiden Familien von Manz und Marti, Salis und Vrenchens Väter, in Prozessen und im Streit zugrunde gerichtet haben und Sali und Vrenchen, die mittlerweile ein Liebespaar geworden sind, keinerlei Zukunft für sich als Paar mehr sehen, schlägt ihnen ein schwarzer Geiger eine Existenz außerhalb gesellschaftlicher Regeln vor, was aber für beide unannehmbar ist. Es ist jener schwarze Geiger, dem der Acker, den sich die Väter einst angeeignet hatten, gehört hatte, der aber, weil er nicht in die Schweizer Gesellschaft integriert war, seine Besitzrechte nicht hatte geltend machen können. Am Ende der Geschichte gehen Sali und Vrenchen in den gemeinsamen Freitod.
Keller bestätigt einmal mehr das realistische Grundgesetz: Realität ist nur, was soziale Realität ist. Was aber die Gesellschaft im Innersten zusammenhält, was den Status ihrer Mitglieder begründet, das ist das Geld bzw. das Kapital. Und deswegen erzählt Keller diese Geschichte von Romeo und Julia noch einmal. Dass sie auf dem Dorfe spielt, mag an die Tradition der Dorfgeschichte erinnern, aber das Dorf hat nichts Romantisches mehr, sondern das Dorf ist ein Mikrokosmos, an dem die Gesetze der großen, und das heißt im19. Jahrhundert der kapitalistischen Welt studiert werden können, insbesondere dort, wo sie sich negativ oder tödlich auswirken.
73. Welche Geschichten darf man Diktatoren erzählen? Die Literatur
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