Die 101 wichtigsten Fragen - die Bibel
Zurückhaltung in der Religion. Gott lässt sich nicht durch Opfergaben bestechen. Dem von Gott bestimmten Schicksal kannst du nicht entgehen. (5) Leben, Besitz, eine Frau (hier spricht ein Mann mit Männern!), Essen und Trinken: das alles sollst du genießen, wenn du die Möglichkeit dazu hast. Gegen solchen Genuss ist nichts einzuwenden. Dieser Rat durchzieht das Buch Kohelet wie ein Refrain. Dennoch ist Kohelet zu nüchtern, um ein ausschweifendes Leben mit «Wein, Weib und Gesang» zu empfehlen. (6) Weisheit und Gerechtigkeit geben nicht immer die beste Orientierung. Manchmal muss man auch tricksen – aber übertreibe das Abweichen vom geraden Weg nicht! (Diese uns vielleicht überraschende, aber sehr einsichtige Lehre vom Kompromiss mit der Untugend findet sich Kohelet 7,16–18.)
Der Philosoph gibt kein Beispiel für den letztgenannten Rat. Nach dem Zusammenhang ist vermutlich an listigen Widerstand gegen die Steuereintreiber der Ptolemäer oder Seleukiden im Palästina der Zeit um 200 v. Chr. gedacht. Gegen Ausbeutung kann sich der kleine Mann nur wehren, wenn er zur List greift, um geheimen Widerstand zu leisten. Kohelet zählt die List zu jenen Praktiken der Klugheit,die das Überleben in einer feindlichen Umwelt ermöglichen. Nach Kohelets Spruch «Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe» (9,4) gehört sie zu den Verhaltensweisen des «Hundes».
61. Gehört der Prediger Salomo zur Schule des Diogenes? Die Philosophie, die wir im «Prediger Salomo», dem Buch Kohelet, finden, lässt sich als jüdische Variante der sogenannten kynischen Philosophie verstehen. Der Kynismus, eine Schule der griechischen Philosophie, hat in Diogenes (403–323 v. Chr.) ihren emblematischen Vertreter: Er lebt in einer Tonne (statt einem Haus) und verzichtet auf alle Annehmlichkeiten des Lebens, um alle Sorgen los zu sein, die Beruf und Familie mit sich bringen. Man verspottet ihn als «Hund», was seiner Philosophie den Namen Kynismus (Hundephilosophie) einbringt. Manche Kyniker fanden die Haltung des Diogenes zu streng und zu spartanisch. Sie nahmen sich lieber Aristippos (435–355 v. Chr.) zum Vorbild, einen Lebenskünstler, der dem Genuss nicht abgeneigt war, sich aber auch mit wenig zufrieden gab, wenn es sein musste.
Beide Richtungen der kynischen Schule – die spartanische, strenge des Diogenes wie die heitere, die sich auf Aristippos berief – scheinen Kohelet gleichermaßen beeindruckt zu haben. Das «spartanische» Thema der Abwendung vom Reichtum beherrscht den ersten Teil seiner Schrift. Kohelet wendet sich vom Reichtum ab, denn dieser vermag keine Befriedigung zu bieten – ein geläufiges kynisches Thema. Diese Haltung spiegelt sich in einer philosophischen Erzählung, deren Ausgang allerdings nur angedeutet wird: Ein König bedenkt die Freuden, die ihm sein unerschöpflicher Besitz vermittelt, um deren Leere und Ungenügen zu entdecken; so entledigt er sich seines Besitzes, um fortan als armer Philosoph zu leben. Vielleicht ist dies die als Märchen verkleidete Autobiographie des einst wohlhabenden ersten jüdischen Kynikers. Die Summe seiner Erkenntnisse fasst er in das Wort: «Wer zu den Lebenden gehört, hat Hoffnung; denn ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe.» (Kohelet 9,4) Die königliche Existenz wird durch den Löwen vertreten, doch ist das Königtum tot und der Löwe ein Kadaver. Der Selbstvergleich des Philosophen mit einem Hund lässt sich als Hinweis auf den Kynismus verstehen. Ein weiterer Hinweis findet sich in dem Satz, den jeder Kyniker sagen könnte: «Lieber eine Handvoll und Ruhe, als beide Hände voll und Arbeit und Luftgespinst.» (Kohelet 4,6)
Im zweiten Teil des Buches Kohelet steht das aristippische Thema des Lebensgenusses im Mittelpunkt. Der Leser wird ermahnt, Überfluss, Tafelfreuden und die Liebe zu genießen, solange das Schicksal es erlaubt. «Auf, iss dein Brot mit Freude und trink deinen Wein mit frohem Herzen, denn schon längst hat Gott dieses Tun gebilligt. Jederzeit seien deine Kleider weiß, und an Öl auf deinem Haupt soll es nicht fehlen. Genieße das Leben mit einer Frau, die du liebst.» (Kohelet 9,7–9) Das Leben geht rasch vorbei – und die Gelegenheit zum Genuss ebenfalls. Das Leben insgesamt erscheint dem Philosophen als kurz und nichtig. Kohelets Lieblingssatz «alles ist eitel» (Luther) oder «alles ist Windhauch» (Einheitsübersetzung) findet eine Entsprechung in dem kynischen Vers: «Was immer ist, ist Dunst und Wahngebilde nur.»
Weitere Kostenlose Bücher