Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
«kulturellem Rassismus» oder dem analog gebrauchten «Rassismus ohne Rassen» zu sprechen. Zum einen ist Rassismus an die Konstruktion von körperlichen Unterschieden gebunden. Dabei ist er zu keinem Zeitpunkt umhin gekommen, diese kulturell und religiös mit Bedeutung aufzuladen. Zum anderen ist es umgekehrt nicht so, dass bei dem, was kultureller Rassismus genannt wird, Konstruktionen körperlicher Differenz keine Rolle spielen würden. Theodor W. Adorno (1903–1969) beobachtete in
Schuld und Abwehr
(1951): «Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks
Rasse,
bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.» Der britische Soziologe Stuart Hall schließt hier an, wenn er schreibt, dass das Sprechen von «genetischem Mangel» heute in Begriffen wie «Kulturdefizit» ausgedrückt werde.
Zu verschiedenen Zeitpunkten und in den verschiedenen Versionen des Rassismus kooperieren körperliche und kulturelle Konstruktionen von Differenz, die unterschiedlich gewichtet sein können. Jedoch hat Rassismus nie komplett auf eines der beiden Segmente verzichtet. Deswegen ist der Begriff «kultureller Rassismus» letztlichtautologisch. Oft synonym verwendete Begriffe wie «Neorassismus» oder «Kulturalismus» lenken davon ab, dass von Annahmen die Rede ist, die auf biologistischen Grundannahmen aufbauen und zum breiten Spektrum des Rassismus gehören.
11. Kann Rassismus «positiv» sein? Was könnte an Rassismus positiv sein? Nichts. Allerdings soll der Begriff «positiver Rassismus» in der Alltagssprache darauf verweisen, dass Rassismus auch dann gegeben sein kann, wenn Weiße Schwarzen gar nicht feindselig begegnen (oder besser: begegnen wollen) und sie Schwarze gar nicht schlecht machen, sondern loben wollen.
Die Liste solcher «Komplimente» ist lang: «Du bist ja super braun, ich muss mich dafür monatelang im Sonnenstudio quälen.» Oder: «Darf ich deine Haare mal anfassen, die sehen so toll aus.» Oder: «Schwarze können einfach gut tanzen, die haben eben Rhythmus im Blut.» Oder: «Afrikaner_innen können schnell rennen.» Oder: «Afrikaner_innen sind gut im Bett.»
Das mag gut gemeint sein, ist aber nicht positiv, sondern rassistisch. Denn in jeder dieser Beispielaussagen steckt die Annahme, dass es menschliche Eigenschaften gebe, die sich körperlich manifestieren, die Schwarze naturverbundener, emotionaler oder sexbesessener auf die Welt kommen lassen – oder anders ausgedrückt (meist gemeint, aber heute selten gesagt) mit weniger Vernunft, Verstand und Kultur. Außerdem sagt jeder dieser Sätze dem angesprochenen Schwarzen: Du bist anders, anders als ich. Wenn ich dich sehe, sehe ich alle Schwarzen. Ihr seid anders als wir, wir Weißen. Hier wird essentialisiert und Individualität negiert. Schwarze werden zur Projektionsfläche
weißen
Begehrens nach Fantasien, die mit rassistischem Wissen aufgeladen sind.
12. Gibt es auch in Ghana Rassismus? Menschliche Begegnungen folgen immer Machtachsen, die Diskriminierungen zulassen. Rassismus ist eine spezifische Form davon, der Begriff sollte nicht inflationär verwendet werden. Wenn
weiße
Migrant_innen aus Portugal oder Italien diskriminiert werden, handelt es sich nicht um Rassismus. Rassismus ist (und aktuell sogar wieder verstärkt) an «Hautfarbe» als zentrale Kategorie gebunden und baut damit auf einer vermeintlichen Evidenz der Sichtbarkeit von «Rassen» auf. Auch wenn Pol_innen oder Ir_innen innereuropäischen Diskriminierungenausgesetzt waren und ihnen gegenüber sogar nach Strategien der «Entweißung» gesucht wurde, bot eben gerade ihr Weißsein immer auch den maßgeblichen Schlüssel, Teil des europäischen Selbst zu werden. So konnten und können – trotz eigener Diskriminierung –
weiße
Pol_innen Rassismus instrumentalisieren, um sich von Schwarzen abzugrenzen und sich selbst dadurch als
weiß
und damit zugehörig zu positionieren, während dies für Nigerianer_innen oder andere, in Deutschland lebende People of Color unmöglich ist.
Kritik am Rassismus kann nur so lange produktiv sein, wie ich den Rassismus in dem Stall belasse, aus dem er stinkt: und dies ist das paneuropäische Projekt, «Menschenrassen» zu erfinden, um dem europäischen Kolonialismus als Schwert und Schild zu dienen, einschließlich seiner Vorläufer seit der Antike, der Auswüchse, die diese Erfindung im Nationalsozialismus und mit der Shoah genommen hat, und seiner Facetten, die heute die Welt im Klammergriff halten.
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