Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
aber bestand die erste Amtshandlung der Kolonialmacht darin, Menschen ihr Land wegzunehmen und es zu besetzen. Das geschah militärisch und mit anderen Gewaltformen, wobei die Landräuber die Beraubten an die Peripherie des Menschseins verwiesen, gemäß dem Motto: Wer kein (kultivierter/zivilisierter) Mensch ist, entbehrt des Anspruchs darauf, Land und dessen Reichtümer zu besitzen. Diese Quadratur des Kreises unterwarf besiedeltes Land der Fiktion, es sei
terra nullius
– menschenleeres und verfügbares Land.
Tatsächlich wurden die einheimischen Bevölkerungen oft gegen ihren aktiven Widerstand verschleppt, beraubt, unterdrückt oder gar eliminiert. Bestehende soziale Strukturen, politische Systeme, kulturelle Praktiken, Wissensarchive, Religionen und Sprachen wurden unterdrückt oder zerschlagen. Das eroberte Land wurde – oftmals entgegen langfristig gewachsenen geopolitischen Räumen und Grenzlinien – nach dem eigenen Vorbild gestaltet und gemäß eigenen Interessen umfunktioniert.
Dabei wurden verschiedene Ziele und Zwecke verfolgt. Das eroberte Land kann als militärischer oder als Handelsstützpunkt dienen (
Stützpunktkolonie
) oder auch als
Beherrschungskolonie
etabliert werden. In diesem Falle siedeln sich nur so viele Bürokraten, Militärs und Handelsleute an, wie zur strukturellen Etablierung der vom kolonialen Kernland aus geleiteten direkten oder indirekten Fremdherrschaft sowie zur wirtschaftlichen Ausbeutung der lokalen Ressourcen vonnöten sind. Alternativ kann es zur Neubesiedelung und zur Gründung von
Siedlerkolonien
kommen, die billiges oder enteignetes Land zunächst vornehmlich agrarisch (Stichwort Plantagenökonomie), später dann auch anderweitig nutzen – und zwar unter Ausbeutung lokaler Arbeitskräfte und/oder versklavter Menschen.In jedem Fall wird die eigene politische Macht nach innen wie nach außen gestärkt und ökonomischer Profit aus der Kolonisierung geschlagen.
Kolonialismus gibt es seit der Antike und weltweit. Dabei begegnen wir sehr komplexen und widersprüchlichen Geschichten. Auch der moderne europäische Kolonialismus, der 1492 seine Anfänge nahm, gestaltete sich unterschiedlich. Das ist schon offensichtlich angesichts der Vielzahl der beteiligten Kolonialmächte wie etwa Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Portugal, Spanien, Belgien, Italien und der Niederlande sowie der Tatsache, dass ihre Kolonialreiche den gesamten Globus umspannten. Der französische Jurist und Ökonom Arthur Girault hielt 1921 fest, dass kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Hälfte des globalen Festlandes und 2/5 der damaligen Weltbevölkerung, das heißt 600 Millionen Menschen (440 Millionen in Asien, 120 Millionen in Afrika, 60 Millionen in Ozeanien und 14 Millionen in den Amerikas), kolonialen Regimen unterworfen waren. Der Kolonialismus hat so nachhaltig gewirkt, dass er auch Länder, die selbst weder Kolonialmacht noch Kolonie waren, prägte. Dabei stellt die gleichsam singuläre Massenversklavung afrikanischer Menschen ein Segment der ersten Phase des europäischen Kolonialismus dar. Ohne die koloniale Besiedelung in den Amerikas hätte die Deportation versklavter afrikanischer Menschen nicht diese singulären Auswüchse angenommen, und der Kolonialismus wäre deutlich weniger potent gewesen. Als Sklaverei verboten und zunehmend auch tatsächlich strukturell überwunden wurde, glitt der Kolonialismus in seine zweite Phase hinüber, die oft als imperiale Phase bezeichnet wird und zwischen der Berliner Konferenz (1884/85) und dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Hochphase hatte. In nur zwei Jahrzehnten wurden 90 Prozent des afrikanischen Territoriums unter den europäischen Kolonialmächten aufgeteilt.
Proteste der versklavten Menschen wurden durch den Abolitionismus, der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, von Weißen aufgenommen und gewannen dabei einerseits strukturell an Macht, wurden andererseits aber gezähmt. Gleichzeitig lösten die revolutionären Situationen in den Kolonien und die Massenproteste (wie der Aufstand der Nama und Herero, 1904–1908, und der Maji-Maji-Aufstand, 1905–1907) eine Krise im kolonialen Zentrum aus, die sich auch darin niederschlug, dass aus dem Zentrum der Macht herausKritik am Kolonialismus geübt wurde. Doch so wie der Abolitionismus die Sklaverei in eine Legitimationskrise und dann in den Untergang führte, ohne dass der Rassismus als ihre ideologische Grundlage angegriffen worden wäre, wurden koloniale Praxen in
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