Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
«Norm» und als neue Qualität der «Hautfarbenkonzeption» in der Renaissance. Diese hat auch in der deutschen Sprache Spuren hinterlassen, etwa in der Redewendung, jemand habe «blaues Blut». Wer dieses habe, stamme dem allgemeinen Verständnis nach aus einer adligen Familie. Diese Abstammung ist über Blutsverwandtschaften garantiert. Dabei steckt im «blauen Blut» auch der Gedanke, dass die edle Abstammung sichtbar wird – unter der Haut schimmern Venen bläulich durch. Die Venen zeichnen sich umso deutlicher ab, je heller der Teint einer Haut ist. Hier stehen wir inmitten von Weißsein und einer Geschichte, in der Adlige sich nicht der Sonne aussetzen mussten – ein Privileg in agrarisch geprägten Gesellschaften. Im Kern hat also blaues Blut, wer noch
weißer
ist als andere Weiße.
30. War Shakespeares «dark lady» eine Schwarze Frau? In Shakespeares Sonetten 127–132 besingt das lyrische Ich die «raven black eyes» seiner «mistress». Sie seien «nothing like the sun», ihre Brüste nicht so weiß wie Schnee, sondern «dun» – das heißt im Mittelenglischen braun – und ihr Haar gleiche «black wires». Allgemein wird angenommen, dass Shakespeares Sonette gegen die poetische Kultur des Übertreibens von Schönheit Stellung beziehen und an der Schönheit nachgerade wertschätzten, dass sie immer kleine Makel habe. Gerade das mache sie und die besungene Frau so liebenswert.
Diese Frau ist als «dark lady» bekannt. Allerdings benutzte Shakespeares lyrisches Ich niemals das Wort «lady», wohl aber «slave». Freilich war dies eine gängige Metapher der Sonettenkultur. Das bedeutet aber nicht, sie nicht auch wörtlicher nehmen zu können. Hinzukommt, dass «dark» in den Sonetten nur einmal verwendet wird, «Black» aber der konsequent gebrauchte Marker ist. Dies könnte Spuren in Richtung einer ganz anderen Lesart legen.
So fragte bereits 1861 der Shakespeare-Übersetzer Wilhelm Jordan, im Wissen, dass dies «noch nicht ausgesprochen ist und Manchem seltsam vorkommen wird», ob es sich bei Shakespeares «dark lady» nicht um eine Schwarze handeln könne. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts argumentierte G. B. Harrison, der Ton der Sonette verrate, dass die adressierte Frau sozial tief stehend zu verorten sei und vieles dafür spreche, dass sich hinter der «dark lady» die Prostituierte des Gray’s Inn, Lucy Negro, verberge, die er für eine Schwarze hält. Harrisons These stieß auf Kritik, sie sei geschmacklos und diskreditiere ihn, wenn er glauben könne, Shakespeare sei ein «fair enslaver» einer «blackmoor».
Seit den 1990er Jahren gewinnt diese These aber an Gewicht. Warum sollte Shakespeare das Wort
woman
benutzen, wenn er eine
lady
meint und mehr noch: Sollte der Meister des Wortes nicht gewusst haben, dass sich
darkness
semantisch von
blackness
unterscheidet? Warum sollte er in einer Zeit, in der
fairness
als Weißsein und Schwarz als symbolischer Ort für Sklav_innen etabliert war, über
blackness
dichten, wenn er die
darkness
einer
weißen
(adligen) Frau meint? Vieles spricht dafür, die
blackness
wörtlich zu nehmen und sie als Schwarze Frau zu erkennen.
Bedenkt man, dass Schwarz als symbolische Position im Elisabethanischen England Jüdischsein einschloss, könnte auch eine Jüdin die Muse hinter der Schwarzen Frau der Sonette sein – womöglich die Schriftstellerin Emilia Lanier, wie manche vermuten. Doch es finden sich auch Indizien dafür, dass die Besungene eine Frau afrikanischer Herkunft war, die Shakespeare im Londoner Gray’s Inn getroffen haben könnte. Eine Schwarze Frau hätte in Shakespeares London kaum ein unabhängiges Gewerbe betreiben können, so dass zu vermuten ist, dass sie eine Schwarze Zwangsprostituierte war. Dadurch erscheinen auch die ihr in den Mund gelegten Bekenntnisse zum Hass in einem neuen Licht – und zwar als Worte des Widerstandes. Gleichzeitig ist es in einer Zeit, in der Elisabeth I. Weißsein als
fairness
zelebrierte, revolutionär, wenn Shakespeares lyrisches Ich die Schwarze Schönheit als Gegenbild, als neue Schönheit entwirft, und von einer Sexualität spricht, die die Zeugung von gemeinsamen Kindern nicht ausschließt. So gesehen verwundert es nicht, dass dieSonette nicht eindeutig sagen, dass die Besungene eine versklavte Afrikanerin sei. Denn dies hätte dem Dichter ein qualvolles Ende im Tower einbringen können. Passen könnte eine solche poetische Figur zu Shakespeare allerdings, denn mit Othello führte er auch den ersten
Weitere Kostenlose Bücher