Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
erreichte mehr als fünf Punkte. Dazu waren die Geschichten auch zu läppisch und der Applaus zu mau, wir griffen beide zu Routinetricks, erzählten alte Geschichten in neuen Variationen, knüpften gegenseitig an Pointen des anderen an, traten erzählerisch auf der Stelle, versuchten uns zu schonen, wir kämpften wie zwei müde Boxer, die sich für ein paar Runden aneinanderlehnen.
Runde 46 bis Runde 57
Im nächsten Dutzend Runden konnte ich wieder Boden gutmachen. Nussram Fhakir zeigte jetzt doch gelinde Verschleißerscheinungen.
Mittlerweile erkannte ich, warum Smeik mich so eindringlich darum gebeten hatte zu verlieren. Auf langer Distanz machte sich der Altersunterschied bemerkbar, ich hatte einfach die bessere Kondition, den längeren Atem, die jüngeren Stimmbänder. Die (nur für den Profi wahrnehmbaren) Konditionsschwächen Fhakirs versetzten mich in beherrschte Euphorie. Wir hatten jetzt nahezu sechzig Runden gekämpft, die Punkteverteilung war ungefähr gleich. Ich lief zu neuer Hochform auf, die Geschichten fielen mir einfach so zu, wie bei meinem ersten Gladiatorenkampf mit dem Stollentroll. Mehr noch, die Ideen sprudelten derart massenhaft, daß ich mehrere Geschichten zu einer verband, in einer Runde Material für fünf weitere bündelte und mit den Ideen nur so um mich warf. Das Publikum kam wieder in Schwung.
Eigentlich war es gegen alle Regeln und gegen jede Vernunft, derart verschwenderisch mit seinem Lügenrepertoire umzugehen, aber ich hatte das Gefühl, ein Faß ohne Boden angestochen zu haben. Wo das herkam, war noch viel mehr.
Ich erzählte von meinen Abenteuern auf der Sireneninsel, von meiner Fähigkeit, aus jedem beliebigen Stück Holz ein Kunstwerk blasen zu können, vom Zacken, den ich aus Neptuns Krone gebrochen hatte. Ich berichtete über einen Aufzug, mit dem ich zum Mittelpunkt der Erde gereist war, vom Krokodilstränensammeln am Amazonas und davon, wie ich das Nordlicht eigenhändig an den Himmel malte, mit dem Schweif eines Kometen, den ich zugeritten hatte. Ich gab Einblicke in mein Berufsleben, erzählte von meinen Beschäftigungen als Sternendekorateur, Schluckaufheiler, Äquatorkontrolleur, Unterwasserpolizist, Wellenfriseur und Gezeitendirigent. Unter dem Siegel strengster Geheimhaltung vertraute ich dem Publikum an, daß ich es gewesen war, der die Weltmeere versalzt, den Polarkreis vereist und die Süße Wüste ausgedörrt hatte.
Ich gestikulierte, führte eindringliche Pantomimen vor, machte großzügigen Gebrauch von meiner Theaterstimme und verrenkte mich in meinem Sessel, um auch noch den letzten Lacher aus dem endlich wieder begeisterungsfähigen Publikum herauszuquetschen. Man belohnte mich dafür mit neuen Höchstwerten, keine Geschichte bekam weniger als neun Punkte.
Nussram indessen machte einen übermüdeten Eindruck, er servierte zwar immer noch brillante Lügengeschichten auf einem darstellerischen Niveau, um das ihn jeder jüngere Gladiator beneidet hätte, aber der Fachmann erkannte an seiner zurückgenommenen Körpersprache, daß hier auf Sparflamme gekocht wurde.
Auch meine Kräfte ließen nach, nicht allmählich, sondern urplötzlich. Siebenundfünfzig Runden waren vorbei, ich lag deutlich mit etwa zehn im Vorsprung und hätte jetzt durchstarten müssen, aber meine ganze Gesichtsmuskulatur schmerzte vom Reden und Grimassieren, meine Kehle war trocken und meine Zunge geschwollen und rauh wie Schmirgelpapier. Am ausgetrocknetsten aber war mein Gehirn.
Ich hatte nicht mehr eine einzige Idee.
Und jetzt drehte Nussram Fhakir erst richtig auf.
Runde 58 bis Runde 77
Damit hatte ich nicht mehr gerechnet. Er hatte mich die ganze Zeit getäuscht, hatte sozusagen taktisch in den Seilen gehangen, Kraft getankt und mich wie einen Anfänger vorgeführt. Ich war völlig ausgebrannt und hatte die besten Ideen im Rausch des Sieges sinnlos verschleudert, während er in besserer Verfassung als zu Anfang des Duells zu sein schien.
Ich hatte zwei Dinge unterschätzt: erstens die enorme Erfahrung, die er in einer zwölfmal so langen Amtszeit gesammelt hatte. Er hatte dabei nicht nur Tausende von Geschichten erzählt, sondern noch mehr gehört und in seinem Gehirn gespeichert, ein Fundus, aus dem er jetzt völlig neue Geschichten zusammensetzen konnte. Zum zweiten hatte er eine lange Ruhepause hinter sich, sechs Jahre hatte er nicht mehr auf der Bühne gestanden, wohingegen ich seit einem Jahr ein Duell nach dem anderen ausgefochten hatte. Ich war am Ende, und er stand
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