Die 13. Stunde
zweiseitigen Brief dreimal, faltete ihn dann zusammen und steckte ihn in die Brusttasche, ohne dass er hätte sagen können, was er davon halten sollte. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance, Julia zu retten. War er verrückt, dass er diesem Gedanken noch nachhing? Dass er die unerfüllbare Hoffnung noch immer zuließ?
Sein Verstand musste ihm einen Streich spielen.
Die Bilder von Julias Leiche, die Detective Shannon ihm vorgelegt hatte, waren so echt gewesen, dass Nick glaubte, er hätte sich endgültig dem Wahnsinn ergeben, einer grotesken Ausgeburt seiner Wunschvorstellungen. Es kam ihm vor, als wäre er in einem Traum gefangen, und er mobilisierte seine ganze Willenskraft, um endlich aufzuwachen.
Er griff in die Tasche, holte erneut die Uhr hervor, von der im Brief die Rede war – die goldene Taschenuhr, die der Europäer ihm im Verhörraum gegeben hatte. Er ließ den Deckel aufklappen und starrte auf die römischen Ziffern.
Trotz seiner Zweifel und der grundsätzlichen Unmöglichkeit stand außer Frage, wo er in diesem Augenblick war und welche Uhrzeit das Zifferblatt anzeigte.
Nick hatte bereits in diesem Zimmer gesessen, mit Marcus Scotch getrunken und Julias Tod betrauert. Das war keine Fantasievorstellung, kein Tagtraum. Seine Tränen waren so echt wie der Schmerz in seinem Herzen, und Marcus’ tröstende Worte klangen ihm noch in den Ohren.
Und der Verhörraum im Polizeirevier von Byram Hills, wo er Dance’ Fragen über sich ergehen ließ und auf die Waffe starrte – er war dort gewesen! Um 21.58 Uhr hatte Detective Shannon ihn dann mit der grausamen Wirklichkeit konfrontiert, in Gestalt der Tatortfotos. Das alles war tatsächlich geschehen. Und auch an der Uhrzeit konnte kein Zweifel bestehen, denn die vom Drahtkorb geschützte Wanduhr war jener Punkt gewesen, auf den Nick sich in den neun Minuten vor zehn Uhr konzentriert hatte.
Doch hier stand er und starrte auf die kleinen schwarzen Zeiger der goldenen Uhr, eines Zeitmessers, der aussah, als wäre er über hundert Jahre alt, und der dennoch perfekt zu funktionieren schien.
Nur dass die Uhr Viertel nach acht zeigte.
Nick nahm die Fernbedienung vom antiken Schreibtisch und richtete sie auf den Fernseher, wo noch immer Bilder von Tod und Vernichtung abliefen wie in einem Horrorfilm.
Das Ausmaß der Tragödie stand außer Frage. Es war eine Katastrophe, die in den nächsten Tagen das ganze Land beschäftigen würde. Und während Nick bewusst war, dass die Welt um die Passagiere von Flug 502 der North East Air weinte, hatte er selbst nur Tränen für Julia.
In einem Augenblick sehnsüchtiger Hoffnung ließ er die Möglichkeit zu, dass in dem Brief doch die Wahrheit stand, und er fragte sich: Was, wenn es wirklich stimmt? Er hatte nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Wenn er den Brief als Wahrheit betrachtete, wenn er hinnahm, dass es wieder 20.15 Uhr war, dann, vielleicht …
Ganz gleich, wie unglaublich es klang und wie verrückt alles war, eines begriff Nick: Wenn im Brief die Wahrheit stand – die Wahrheit über die Uhr –, konnte er Julia vielleicht noch retten.
Plötzlich öffnete sich die Tür. Marcus Bennetts massige Gestalt füllte den Eingang. In seiner grauen Nadelstreifenhose, der blauen Krawatte und den aufgerollten weißen Hemdsärmeln sah er aus wie ein Holzfäller in Designerklamotten. Je ein Kristallglas in beiden prankenartigen Händen, betrat er das Zimmer.
Seit sechs Jahren wohnten Nick und Marcus in benachbarten Häusern, und es verband sie mehr als eine oberflächliche Bekanntschaft. Beide waren leidenschaftliche Eishockeyfans, die fast alle Heimspiele der Rangers besuchten. Beide hatten sie auf der Highschool selbst gespielt, aber nie die Beachtung gefunden, die sie verdient gehabt hätten – zumindest ihrem allzu ausgeprägten Selbstbewusstsein nach. Um ihren Traum zu verlängern und ihre Jugend zu bewahren, spielten sie jeden Mittwochabend in einer Altherrenmannschaft, Nick als Torwart, Marcus als sein stets gegenwärtiger Abwehrspieler.
Mit neununddreißig Jahren war Marcus sieben Jahre älter als Nick. Er hatte Jura studiert, hatte sich aber bald vom Gerichtssaal auf das Gebiet der Unternehmenszusammenschlüsse und Firmenübernahmen verlegt. Dank seines Erfolgs hatte er mit zweiunddreißig bereits ein beträchtliches Vermögen angehäuft, das allerdings durch mehrere Scheidungen und Alimentezahlungen ständig schrumpfte; dennoch war Marcus nach wie vor einer der reichsten Männer der Stadt.
Doch
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