Die 13. Stunde
seinem Talent, verwundbare Firmen aufzuspüren, die sich übernehmen und ausnehmen ließen, konnte sein Geschick bei der Auswahl weiblicher Gesellschaft nicht annähernd das Wasser reichen. Nick hätte nicht zu sagen vermocht, ob Marcus sich von Lust oder von Schönheit blenden ließ, doch es gab keinen Zweifel, dass sein Gespür für Frauen bei Weitem nicht so ausgeprägt war wie sein Geschäftssinn: Innerhalb von sechs Jahren hatte er drei Ehen und drei Scheidungen hinter sich gebracht.
Nach jedem Fehlschlag, wenn Marcus’ vorübergehende Verachtung des weiblichen Geschlechts ihn blind machte für alle Vernunft, schwor er sämtlichen Frauen ab und vergrub sich in Arbeit, drohte im betrunkenen Zustand sogar damit, Mönch zu werden. Allerdings löste seine heftige Abneigung sich jedes Mal wieder in Luft auf und wich einer neuen blinden Liebe.
Als Ergebnis seines Versagens in Herzensangelegenheiten stand Marcus nicht nur Nick nahe, sondern auch Julia. Sie war die Stimme der Vernunft, die ihm Trost bot, die Schwester, die Marcus nie gehabt hatte und die ihm auf jeder emotionalen Querfeldeinfahrt beistand. Sie achtete auf ihn, wenn er die Achterbahn der Emotionen zwischen Betrübnis und Wut bis hin zu völliger Verwirrung bestieg. Bei Marcus erlosch die Liebe, die Nick für ewig hielt, schneller als der neueste Leasingvertrag für einen Bentley.
Im Moment sonnte sich Marcus in seiner jüngsten Eroberung. Sheila war ein ehemaliges Werbemodel, auch wenn niemand wusste, für wen sie warb oder ob sie jemals wirklich als Model gearbeitet hatte. Mit ihrem dichten schwarzen Haar und den tiefen haselnussbraunen Augen war sie bezaubernd und der körperliche Gegensatz zu Blythe, Marcus’ dritter Frau, einer blassen Schönheit, die sich ganze achtzehn Monate lang an ihr Lotterielos geklammert hatte und dann mit einem Gewinn von zehn Millionen Dollar abgerauscht war.
Mit seinem frühzeitig ergrauten Haar, das anschließend ins Nichts zurückgewichen war, und seiner schiefen, dreimal auf dem Eis gebrochenen Nase erfüllte Marcus schwerlich die Idealvorstellung eines gut aussehenden Mannes. Für sein Äußeres war er nie berühmt gewesen; er hatte eines jener Gesichter, mit denen man in jeder Menschenmenge anonym blieb und das die meisten Leuten nach einer Minute wieder vergessen hatten. Doch seine Attacken auf dem Schlachtfeld der Liebe ritt er stets mit prall gefüllter Brieftasche und warmherzigem Lächeln; beides zog viele Frauen an und half Marcus, jede Unsicherheit zu überwinden, die als Folge seiner ehelichen Katastrophen entstanden sein mochte.
Marcus reichte Nick schweigend ein Glas. Es bedurfte keiner Worte: Über ihnen hing die Trauer, schwarz und drückend wie eine Gewitterwolke.
In Marcus’ braunen Augen spiegelte sich Schmerz, während Nick still auf das Glas starrte. Seine Gedanken verloren sich in der gelbbraunen Farbe und dem Geruch des Scotchs.
»Ich weiß, dass du nichts trinkst«, sagte Marcus schließlich mit seiner tiefen Stimme. »Aber Regeln gelten jetzt nicht mehr.«
Nick hob das Glas und nahm einen tiefen Schluck.
Marcus hielt ihm die Hand hin, öffnete sie und zeigte ihm zwei Xanax.
»Die sind von Sheila. Wenn dir Valium lieber ist, das hat sie auch.«
Nick schüttelte den Kopf und wischte den Gedanken beiseite, Schlaftabletten zu nehmen, um dem Albtraum ein vorübergehendes Ende zu setzen.
»Der Leichenbeschauer ist mit zwei Kriminalbeamten da. Sie sehen sich alles an. Sie sagen, das ganze Haus muss auf Fingerabdrücke untersucht und fotografiert werden, ehe sie …« Marcus fiel das Weitersprechen schwer. »Ehe sie sie wegbringen.«
Nick wusste das alles. Er wusste genau, wie die Stunde ablaufen würde. Er wusste, dass der schwarze Leichensack in fünf Minuten auf einer Bahre hinausgerollt würde, der weißhaarige Coroner vorneweg. Er kannte auch die Namen der Detectives, die bald durch die Tür kommen würden: Shannon und Dance. Und er wusste alles über Mitch Shuloff.
»Erinnerst du dich noch an Mitch?«, fragte Marcus, als könnte er Nicks Gedanken lesen. »Er ist letztes Jahr mal mit zum Eishockey gekommen.«
Nick erinnerte sich. Mitch Shuloff war ein aufdringlicher Kerl, der nie den Mund hielt und besessen davon war, immer recht zu haben – was zu allem Überfluss meist zutraf.
»Er ist der Beste. Außerdem wollte ich ihn sowieso anrufen – er hat beim Wetten einen Tausender an mich verloren. Nimm es ihm nicht übel, aber er ist ein Fan der Boston Red Sox.«
Genau das hatte
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