Die 39 Zeichen 09 - Ruf der Karibik
denn hier los?«, fragte er erstaunt.
Nellie knüllte den Beutel zusammen und stemmte eine Hand in die Hüfte. »Ich bin raus, wenn ich es sage, und nicht, wenn es mir jemand anders befiehlt«, verkündete sie mit einem strengen Blick auf Amy.
Amy starrte Nellie mit weit aufgerissenen Augen an.
» Jahu! « Dan riss die Faust empor. »Und Ian ist im Kletternetz gefangen – es dauert bestimmt ’ne Ewigkeit, bis er da wieder rauskommt. Habt ihr den Reißzahn?«
Amy blinzelte. »Noch nicht«, antwortete sie.
Die beiden rannten zu Amy auf die Brücke und gemeinsam gingen sie zurück zu den Kabras. Isabel lag noch immer bewusstlos auf dem Rücken. Amy konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Es war seltsam, die unbezwingbare und Furcht einflößende Isabel so verletzlich auf dem Boden liegen zu sehen.
»Wir könnten …« – Dan brachte nur ein heiseres Krächzen hervor – »… Wir könnten dafür sorgen, dass sie uns nie wieder belästigt.«
Amy sah ihn verwundert an. Woher weiß er nur immer, was in mir vorgeht?
»Äh, ich meine ja nicht …«, stotterte Dan. »Aber … vielleicht gibt es ja irgendwas, wodurch sie … für einige Zeit aus dem Verkehr gezogen wird … sagen wir für einen Monat oder so …«
Aber was sollte das sein? Sollten sie ihr noch einmal auf den Kopf schlagen? Wäre es damit erledigt? Ihr ein paar Knochen brechen? Ihr hart in den Bauch treten, damit sie innere Verletzungen bekam?
Diese Gedanken schwirrten Amy nur ein paar kurze Sekunden durch den Kopf, denn sie kannte bereits die Antwort.
»Das können wir nicht«, flüsterte sie.
Und damit meinte sie nicht nur, dass sie rein körperlich nicht die Kraft dazu hatten. Sie meinte, dass sie nicht auf diese Weise an Isabel Rache üben durften. Sie waren sich darin einig, dass sie Gerechtigkeit wollten – aber nicht auf diese Weise. Und nun hatten sie erneut die Gelegenheit, zu beweisen, dass sie anders waren als der Rest der Madrigals.
Dan seufzte – es war ein erleichtertes und zugleich bedauerndes Seufzen.
Natalie kniete über ihrer Mutter. Sie hatte ihre Jacke ausgezogen und drückte den Ärmel auf die Wunde an der Stirn. Sie sah auf.
»Sie blutet. Bitte, ihr müsst mir helfen!«
Amy hatte Natalie noch nie so erlebt. Jegliche Arroganz war von ihr gewichen, und alles was übrig geblieben war, war ein verängstigtes Mädchen.
Nellie untersuchte Isabel kurz. »Puls und Atmung sind in Ordnung. Aber die Wunde muss genäht werden.«
»Genäht? Heißt das … es bleibt eine Narbe?«, fragte Natalie sichtlich entsetzt.
Nellie ignorierte sie. »Du bist dran«, sagte sie zu Amy.
Diese zögerte einen Augenblick. Sie ist nicht tot – es ist nicht so, als würdest du eine Leiche anfassen , sagte sie sich. Dennoch fand sie es unheimlich, Isabel am Arm zu fassen und ihr den Ärmel hochzuschieben.
Kein Armband, an beiden Handgelenken nicht.
»Der Reißzahn«, wandte sich Amy an Natalie. »Wo ist er?«
Natalie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Sollen wir sie lieber durchsuchen? Das machen wir glatt«, meinte Nellie mit drohender Stimme.
Amy sah kurz zu Natalie und dann wieder zu Nellie.
»Könnt ihr uns kurz allein lassen?«, bat Amy. »Du auch, Dan.«
Dan machte ein beleidigtes Gesicht, aber er und Nellie verließen ohne jeden Kommentar die Brücke.
Amy kniete sich neben Natalie. »Ich brauche diesen Reißzahn«, wiederholte sie. »Wenn deine Mutter wieder zu sich kommt, bevor ich ihn habe, müssen wir sie noch einmal bewusstlos schlagen. Und das wäre sicher nicht gut für sie. Sag mir, wo der Zahn ist, und wir helfen dir, sie zu einem Arzt zu bringen.«
Natalie runzelte die Stirn, antwortete aber nicht.
Amy setzte noch einen drauf. »Wahrscheinlich hat sie eine Gehirnerschütterung. Je länger wir hier sitzen und warten, desto gefährlicher wird es.«
Natalie wirkte verzweifelt. »Wie wär’s mit einem Tausch«, schlug sie vor. »Ihr habt diesen Drachen, den meine Mutter unbedingt haben will. Ich gebe euch den Zahn, und ihr gebt mir den Drachen.«
Amy schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht«, entgegnete sie.
Beide schwiegen.
Natalie nahm den Ärmel ihrer Weste von Isabels Wunde. Die Blutung hatte aufgehört. »Sie wird sich furchtbar aufregen, wegen der Narbe«, flüsterte sie. »Glaubst du, man kann so was mit Make-up abdecken?«
Ihre Mutter ist bewusstlos und blutet, und sie denkt an Make-up!
Aber Natalie sah tatsächlich besorgt aus.
»Ich kenne mich mit Make-up leider nicht aus«,
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