Die 39 Zeichen 09 - Ruf der Karibik
entschuldigte sich Amy. »Meine Mutter … sie ist nicht mehr dazu gekommen, mir zu zeigen, wie man sich schminkt. Sie ist gestorben, als ich gerade mal sieben war.« Pause. »Und es gibt noch so viele andere Dinge, die wir nie zusammen machen konnten.«
»Shoppen«, meinte Natalie. »Das machen meine Mutter und ich am liebsten.«
»Ja«, meinte Amy leise. »Ich werde nie mit meiner Mutter shoppen gehen.«
Natalie riss die Augen auf. »Das ist ja furchtbar.«
Amy beugte sich vor. »Natalie, bitte«, drängte sie. »Deine Mutter braucht Hilfe.«
Natalie sah zu Isabel. »Versprichst du …«, begann sie mit zitternder Stimme, »… versprichst du, ihr nicht mehr wehzutun, wenn … wenn ich …«
Amy hob die Hand wie ein Pfadfinder. »Ich schwöre«, sagte sie.
Natalie griff in eine der Innentaschen am Hosenbund ihrer Mutter. »Sie hat ihn da drin«, erklärte sie. »Sie meinte, im Notfall müsste sie vielleicht die Jacke ausziehen, aber es müsste schon einiges passieren, damit sie die Hose ausziehen würde.«
»Ganz schön schlau«, bemerkte Amy und meinte es auch so.
Natalie löste den Klettverschluss der Tasche und nahm den Reißzahn heraus. Er hing an einem Schlüsselring. »Sie hat ihn schon vor Jahren gefunden«, erzählte sie. »Normalerweise trägt sie ihn an ihrem Armband, aber sie fand, heute wäre er dort sicherer aufgehoben.« Natalie reichte Amy den Zahn, die ihn kurz besah und dann die Finger um ihn schloss.
Amy stand auf. »Du bleibst hier bei ihr«, bestimmte sie. »Wir rufen einen Krankenwagen.«
Natalie runzelte nachdenklich die Stirn. »Warte noch«, bat sie. »Habt ihr etwas, womit ihr mich fesseln könnt?«
»Du willst, dass wir dich fesseln?«, fragte Amy verwundert.
Natalie nickte. »Wenn sie aufwacht und sieht, dass der Wolfszahn verschwunden ist …«
»Verstehe«, erwiderte Amy. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ganz schön schlau«, sagte sie und meinte es auch dieses Mal ehrlich.
Vierzehntes Kapitel
»Wir haben’s geschafft!«, rief Dan, als sie wieder im Wagen saßen. »Aufgepasst, Kabras! Jetzt kommen wir!!«
Amy genoss seine überschäumende Freude. Ihre eigene Reaktion war verhaltener. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie Isabel Kabra tatsächlich überwältigt und den Reißzahn an sich genommen hatten.
Dans sprudelnde Begeisterung ließ ihn unvorsichtig werden. »Jetzt haben wir die Symbole aller vier Familienzweige!«, jubelte er, ohne Amys warnenden Blick zu bemerken.
Na super. Nellie wusste bisher nur von den Schlangenohrringen und dem Zahn – jetzt weiß sie alles.
Dan plapperte unaufhaltsam weiter: »Aber wir wissen immer noch nicht, wozu sie gut sind. Was machen wir als Nächstes?«
Amy hatte alles schon gründlich durchdacht. »Nellie, könntest du vielleicht mal Miss Alice anrufen? Frag sie, ob sie sich erinnern kann, ob Grace an etwas Bestimmten interessiert war, während sie hier war. Außer dem Ohrring, meine ich.«
Der Anruf war erfolgreicher, als sie zu hoffen gewagt hatten. Miss Alice erzählte, Grace sei begeistert von den Ausgrabungen in Port Royal gewesen und habe dort viel Zeit verbracht. Auf Miss Alice’ Rat hin riefen sie noch bei Lester in den Archiven an. Da Lester Geschichte studiert hatte, wusste er alles über die Hafenstadt. Er würde die drei nach Arbeitsschluss dort treffen.
Der Weg nach Port Royal führte sie über die lang gestreckte Sandbank Palisadoes, die in einem Bogen ins Meer ragte. Die Halbinsel war so schmal, dass sie zuweilen auf der einen Seite das Hafengewässer von Kingston und auf der anderen Seite das offene Meer sehen konnten. Lester hatte Nellie gesagt, sie solle zu einer Kirche namens St. Peter fahren. Dort fanden die drei keine große, eindrucksvolle Kathedrale, sondern eine kleine weiße Kapelle vor. Lester wartete schon auf sie.
»Ich möchte euch gerne etwas zeigen«, erklärte er ihnen nach einer raschen Begrüßung. Er führte sie auf den kleinen Friedhof hinter der Kirche. »Hier«, sagte er und deutete auf eine Grabplatte.
Amy las die Inschrift laut vor.
»Hier liegen die sterblichen Überreste von Lewis Goldy, der am 22. Dezember 1739 in Port Royal im Alter von 80 Jahren verstarb. Er wurde in Montpellier in Frankreich geboren, kehrte seiner Heimat aufgrund seiner Religion den Rücken und ließ sich auf dieser Insel nieder, wo er im Jahre 1692 vom Großen Erdbeben verschluckt wurde. Durch eine Fügung Gottes war er aber bei einem zweiten Beben auf wundersame Weise ins Meer
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