Die 50 Groessten Luegen Und Legenden Der Weltgeschichte
schrieb er, er habe das Fundament des Glaubens durch menschliche Vernunft greifbar machen wollen. Héloïse war erst 16 oder 17 Jahre alt, als der größte französische Scholastiker ihr Lehrer wurde, ein außergewöhnlich begabtes Mädchen und eine gelehrige Schülerin.
Jedoch blieb es nicht beim reinen Lehrer-Schülerin-Verhältnis. Abaelard verliebte sich in die junge Frau, und die beiden begannen ein Verhältnis, ja bekamen ein gemeinsames Kind und heirateten sogar. Doch das Glück währte nur ein paar Jahre: Aus nicht klar nachvollziehbaren Gründen entrüstete sich HéloïsesOnkel Fulbert über die Verbindung und ließ Abaelard entmannen. Zwar kam Fulbert damit nicht durch; die Täter wurden nach einem Gerichtsverfahren nicht nur ebenfalls kastriert, sondern auch geblendet, und Fulbert selbst verlor all seinen Grundbesitz. Aber das konnte die grausame Tat nicht ungeschehen machen, und vermutlich wurde Fulbert auch überraschend schnell rehabilitiert. Die Liebenden trennten sich und gingen in verschiedene Klöster: Héloïse nach Argenteuil, Abaelard nach Saint-Denis bei Paris, später in die Bretagne. Er lehrte aber weiter in Paris, und seine Vorlesungen brachten ihm später ein Ketzerverfahren ein. Er zog sich nach Cluny zurück und starb 1142 im Alter von 63 Jahren auf einer Reise nach Rom. Héloïse wurde Äbtissin in Argenteuil, wo sie sich in den Augen ihrer Zeitgenossen durch ihre vorzügliche Bildung und moralische Prinzipienstrenge auszeichnete. Sie überlebte Abaelard um mehr als zwanzig Jahre. Seit ihrer Umbettung vor fast 200 Jahren ruhen die sterblichen Überreste des Paares einträchtig nebeneinander auf dem berühmten Pariser Friedhof Père Lachaise.
Trotz ihrer Trennung blieben Héloïse und Abaelard in Kontakt. Das ist auch jenseits der berühmtesten Frucht ihrer Verbindung belegt: einer Sammlung von acht Briefen, die die beiden 17 Jahre nach ihrer Beziehung ausgetauscht haben sollen. Eine weitere wichtige Information über das Liebesverhältnis von Héloïse und Abaelard ist dessen autobiografische Leidensgeschichte ( Historia calamitatum ), mit der Abaelard angeblich einem Freund Trost spenden wollte, indem er ihm erzählte, mit welchen viel schlimmeren Widrigkeiten als der Adressat er in seinem eigenen Leben zurechtkommen musste. Dieser Text lässt eine Entstehungszeit um 1133/34 vermuten. Zu den Schicksalsschlägen gehört nicht nur, aber eben auch die unglückliche Liebesgeschichte mit Héloïse, sodass der Text mit weiteren Einzelheiten der berühmten Geschichte aufwarten kann.
Nicht nur wären diese Handschriften, falls authentisch, für die Zeit des 12. Jahrhundert außergewöhnlich, weil sie über das hinausgehen, was aus dieser Zeit an Selbstzeugnissen überliefert wurde. Der Mensch des Mittelalters besaß nicht in dem Maße, wie wir es heute voraussetzen, eine Selbstwahrnehmung als Individuum, und insofern ist dieses Liebespaar seiner Zeit voraus. Und da aus diesen Pergamentschriften aus dem Hochmittelalter etwas Ungewohntes hervorscheint, wurde Héloïse sogar als »erste moderne Frau« bezeichnet. Aber abgesehen davon liefern diese Briefe mit ihren Äußerungen von Gefühl und Leidenschaft das Fleisch dieser traurigen und so brutal vereitelten Liebe, während die sonst belegten Fakten nur ein spärliches Knochengerippe bieten. Auf besonderes Interesse stießen dabei Passagen der Briefe, in denen Héloïse leidenschaftlich gegen die Ehe streitet und stattdessen die freie Liebe propagiert – lieber sei sie Geliebte als Ehefrau. Da das Mittelalter mit seinem strengen Regiment bis heute als überaus keusch gilt, mussten solche Äußerungen aus der Feder einer Äbtissin Aufsehen erregen. Außerdem wäre Héloïse damit wohl die erste Frau der Geschichte, die so offen die freie Liebesbeziehung einer Ehe vorzieht. Héloïse behauptet außerdem, nicht aus religiöser Überzeugung, sondern auf Geheiß ihres Mannes Abaelard ins Kloster gegangen zu sein – das wäre für ihre Zeit nichts weniger als skandalös. Und zwischen Klostermauern kommt sie nicht los von ihrer Liebe und den Erinnerungen an lustvolle Momente: »Ich sollte über begangene Sünden seufzen und kann nur seufzen, dass sie vergangen sind.« Die briefliche Korrespondenz entwickelt sich zu einer Diskussion, in der Abaelard ihr gut zuzureden versucht, als fürchte er um das Seelenheil der Geliebten.
Diese Briefe inspirierten viele Schriftsteller, den Stoff literarisch zu verarbeiten: angefangen beim berühmten Rosenroman
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