Die 50 Groessten Luegen Und Legenden Der Weltgeschichte
ungarische Chroniken später übernahmen. Somit galt der Hunnenkönig Attila als Ahne der Ungarn, zumal er Jahrhunderte vor den Arpaden das Gebiet des späteren Ungarn beherrscht und das Abendland ebenfalls mit seinen Kriegszügen in Atem gehalten hatte. Noch heute werden daher viele ungarische Babys Attila getauft, und der Hunnenkönig des 5. Jahrhunderts wird gerne als ungarischer Nationalheld beansprucht. In mancherlei politischen Auseinandersetzungen dient die wilde Herkunft von den Hunnen als willkommenes Argument. Aber schon der Begründer der ungarischen Herrscherdynastie der Arpaden, Großfürst Arpad, hat sich auf die Verwandtschaft zu Attila berufen, als er das Land für sich und sein Volk beanspruchte. Nur: Diese Verwandtschaft existiert gar nicht.
Zunächst waren die Ungarn gar keine wirklichen Nomaden,denn sie betrieben Ackerbau. Vor ihrer Christianisierung durch Stephan den Heiligen, der im Jahr 1001 zum ersten ungarischen König gekrönt wurde, führten sie eine Art Mischexistenz zwischen den Landwirtschaft treibenden Siedlungsvölkern Europas und den asiatischen Nomadenvölkern. Wie die anderen europäischen Völker auch waren die Ungarn außerdem kein reines Reitervolk – die Europa heimsuchenden Reiterhorden des 10. Jahrhunderts wurden aus der Kriegerschicht gebildet und von sogenannten Hilfsvölkern unterstützt, die sich an den Streifzügen beteiligten.
Die falsche Auffassung von den skythischen, also asiatischen Nomaden verbreiteten westeuropäische Geschichtsschreiber im 10. Jahrhundert unter dem Eindruck der furchterregenden Reiterhorden, die Dörfer verwüsteten und ihre Bewohner niedermetzelten. Die Schreiber »identifizierten« diese »barbarischen Horden« mal als Skythen, mal als Hunnen oder Awaren, bis sich der Name Ungarn durchsetzte. Im 13. Jahrhundert wurde diese Auffassung von den ungarischen Chronisten übernommen und die Abstammungsthese fortan als Tatsache angesehen. Aufwendige Analysen ungarischer und westeuropäischer Geschichtswerke aus dem Mittelalter haben ergeben, dass die Ungarn in Bezug auf ihre vermeintliche hunnische Abstammung auf das »Wissen« ihrer Kollegen westlich der Donau zurückgriffen. Am Aufwand, der für die Klärung dieser Frage betrieben wurde, lässt sich ermessen, wie sensibel dieses Thema bis heute ist.
Das christliche Mittelalter bemühte sich, die Herkunft seiner Herrscher möglichst weit, also bis ins Alte Testament, zurückzuverfolgen. Wie andere Ahnenforscher machten ungarische Chronisten nach der Christianisierung des Landes als Stammvater einen der Söhne Noahs aus, auf die nach dem Ende der Sintflut, so das Alte Testament, alle Völker der Menschheit zurückzuführen seien. Die ungarische Chronik Gesta Hungarorum beschreibtum 1200 diese Abstammungslinie, aus der sich der Hunnenkönig Attila herleiten lässt. Von Noahs Sohn Japhet, beziehungsweise dessen Nachkomme Magog, stammten die nordischen Skythen ab, die wiederum als Vorfahren von Hunnen, Goten und Mongolen angesehen wurden.
Die Behauptung, die Ungarn stammten von den Hunnen ab, taucht erst um 1280 auf. Der ungarische Chronist Simon Kézai schreibt, die Hunnen hätten Ungarn gleich zweimal erobert: ein erstes Mal unter Attila und dann erneut unter Arpad, dem Begründer der Dynastie der Arpaden, die Ungarn vom Ende des 9. Jahrhunderts bis 1301 beherrschten. Somit galt Attila als Vorfahr Arpads und damit Ahnherr der Ungarn.
Kézais Gesta Hungarorum wurden zur Grundlage des historischen Selbstverständnisses der Ungarn. Diese Herkunftstheorie wurde von der Geschichtsforschung bis Ende des 19. Jahrhunderts übernommen und auch danach nur sehr zögernd infrage gestellt. Sprachwissenschaftler unterstützten aber ihre Wissenschaftskollegen mit dem Argument, die Turksprache der Hunnen unterscheide sich grundlegend von der finnisch-ugrischen der Ungarn. Und das widerspricht der These einer ethnischen Verwandtschaft.
Trotzdem lässt sich die Legende von den Hunnen als Vorfahren der Ungarn bis heute nicht nur in populären Darstellungen, sondern auch in manchen wissenschaftlichen Büchern wiederfinden. Attila war eben nicht nur für die Arpadenfürsten eine akzeptable Legitimation für ihre Landnahme, weil seine Reputation erst von Dschingis Khan übertroffen wurde – er ist noch heute ein lieb gewonnener »Ahnherr«, von dem man sich nur ungern verabschiedet.
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