Die 50 Groessten Luegen Und Legenden Der Weltgeschichte
vom Ende des 13. Jahrhunderts über François Villon und Jean-JacquesRousseau bis zu Bertolt Brecht und Luise Rinser. Und als in den vergangenen Jahrzehnten Lebensschicksale aus dem Mittelalter ein beliebter Lesestoff wurden, gehörten Héloïse und Abaelard an vorderster Stelle zu den Schicksalen, über die man anschaulich und mitfühlend lesen konnte. Bieten sie nicht das überzeugendste Beispiel dafür, wie die Unmenschlichkeit des Mittelalters mit seinen überstrengen moralischen Vorgaben und grausamen Strafen eine reine Liebe zerstörte?
Allerdings streiten die Historiker bis heute, ob die acht Briefe und Abaelards Leidensgeschichte überhaupt authentisch sind – übrigens mit kaum weniger Leidenschaft, als die Héloïse der Briefe äußert. Denn von deren Authentizität hängt viel ab für die moderne Beurteilung des Mittelalters – sei es für die Geschichte der Frauen oder für die mittelalterliche Geistesgeschichte. Abaelard ist ein Kronzeuge, wenn Mediävisten darlegen, wie die Moderne im landläufig verteufelten Mittelalter vorbereitet wurde. Folglich ist es die Einmaligkeit der Briefe, die sie fragwürdig machen: Sind sie eine wertvolle Besonderheit, die das sonstige Bild ihrer Zeit ergänzen, oder sind sie gerade deshalb unglaubwürdig? Das Echtheitsproblem beginnt mit der Tatsache, dass keine Originalbriefe, sondern nur Abschriften erhalten sind. Sie finden sich in verschiedenen Handschriften, die allesamt mindestens 150 Jahre später verfasst wurden. Die Originale sind verloren – oder sie haben nie existiert.
Andere halten eine so kenntnis- wie umfangreiche Fälschung weiterhin für ausgeschlossen und vermuten, zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Abaelards Tod habe jemand an dessen Vorlage, die später verloren ging, herumgebastelt. Das würde die Ungereimtheiten erklären, die man sich beim ursprünglichen Verfasser nicht recht erklären könnte.
Einiges konnte inzwischen immerhin geklärt werden. Selbst wenn die Briefe authentisch sind, handelt es sich dabei nicht umeine echte Korrespondenz, denn aufwendige Analysen haben ergeben, dass alle Briefe zweifelsfrei einem einzigen Verfasser zugeschrieben werden müssen. Zudem stammen sie ebenso sicher nicht aus dem frühen 12. Jahrhundert. Handelt es sich also um Abschriften von Originalbriefen, die verloren gegangen sind? Von vielen Forschern wird die Urheberschaft Abaelards inzwischen ausgeschlossen, weil es zu viele Ungereimtheiten gibt: Zahlreiche Informationen lassen sich mit der angeblichen Entstehungszeit nicht erklären, weitere Fehler bezüglich seiner eigenen Biografie hätte Abaelard selbst kaum gemacht. Der belgische Historiker Hubert Silvestre klassifizierte die Briefe daher als eine spätere Fälschung. Er hat auch eine schlüssige Erklärung parat, wie es zu dieser Fälschung kam: Sie könnte im Zusammenhang mit einer Kampagne gegen das Keuschheitsgebot der Kleriker stehen. Im Mittelalter gab es immer wieder Streit um die Frage von Zölibat und Keuschheitsgebot für Priester. Eine Lockerung dieser Vorschriften konnte sich in der römischen Kirche (im Unterschied zur orthodoxen und zur protestantischen) zwar bis heute nicht durchsetzen. Andere Meinungen darüber und mit diesen verbundene Schriften aber gab es auch im Mittelalter immer wieder. Eine Kampagne dieser Art wollte zwar weiter die Ehelosigkeit der Priester verlangen, ihnen aber sexuelle Beziehungen gestatten. In diesen Zusammenhang passt das Plädoyer von Héloïse für die freie Liebe und gegen die Ehe, die ihr und Abaelard nur Unglück gebracht habe. Weitere Indizien machen diese These zwar nicht beweisbar, aber immerhin sehr wahrscheinlich. Die Urheberschaft der Texte würde damit im Umkreis des Autors des berühmten Rosenromans zu suchen sein, oder bei diesem selbst: Jean de Meun.
Dass diese Erklärung der Entstehungsgeschichte der berühmten Briefe weiterhin Widerspruch hervorruft und viele auf ihre Echtheit bestehen, dürfte auch mit der Faszination zutun haben, die von den Briefen und der Liebesgeschichte ausgeht. Das Liebespaar Héloïse und Abaelard ist sowohl unter Historikern als auch bei am Mittelalter interessierten Laien wegen seiner außergewöhnlichen Geschichte so beliebt, dass man sich von Teilen dieser Geschichte nur unwillig verabschiedet. Aber mit dem Abschied von der Echtheit der Briefe würde die ergreifende Liebesgeschichte des berühmten Paares nicht hinfällig, sondern in der Geschichte des Mittelalters nur an den passenden Platz gerückt.
Eleonore
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