Die 50 Groessten Luegen Und Legenden Der Weltgeschichte
gestorben, sondern hatte sich umgebracht. Die Sache wurde jedoch nicht geklärt, weil beide Seiten auf ihren jeweiligen Versionen bestanden: hier die Versicherung der Angehörigen und Ärzte, dort die Kritiker mit ihrem Verweis auf die zahlreichen Ungereimtheiten. Aber waren die Einwände vielleicht doch nur verständliche, aber unwesentliche Spitzfindigkeiten angesichts des überraschenden Todes eines berühmten Komponisten im Zenit seines Schaffens? Oder wollte die Familie den Skandal eines Selbstmordes vermeiden und sicherstellen, dass der Tote kirchlich begraben wurde? Jahrzehnte später erklärte ein Mitglied des Freundeskreises um Tschaikowsky, das Gerücht des Selbstmords hätten zwei enttäuschte Damen aufgebracht – aus später Rache, weil der Komponist auf ein Heiratsbegehren nicht eingegangen war.
Ende der Siebzigerjahre emigrierte eine Musikwissenschaftlerin aus der Sowjetunion in den Westen und veröffentlichte bald darauf in einer angesehenen britischen Fachzeitschrift einen Artikel über die Hintergründe des Todes von Peter Tschaikowsky. Sie legte erneut die bekannten Zweifel an der Choleraversion dar und offenbarte dann eine Erklärung, die ihr von anderen Insidern bestätigt worden sei: Einer der Ärzte des Komponistenhabe 1933, kurz vor seinem Tod, ihrem Mann berichtet, Tschaikowsky habe sich vergiftet. Aus anderer Quelle erhielt sie zufällig die Erklärung für diesen Tatbestand: Tschaikowsky sei von ehemaligen Mitstudenten aus seiner Petersburger Rechtsschule erpresst worden, die den Ruf ihres Instituts entwürdigt sahen, weil Tschaikowskys homosexuelle Neigungen bekannt zu werden drohten. In einem Brief an Zar Alexander III. sollte Tschaikowsky beschuldigt werden, eine Affäre mit einem jungen Mann zu haben. Man habe ein Ehrengericht versammelt, das den Komponisten zum Selbstmord verurteilte. Er habe Gift genommen und damit seine Familie, seinen Ruf und den seiner Schule vor der Schande bewahrt, dass seine Homosexualität publik gemacht würde. Seinem Bruder Modest habe er erst dann die ganze Wahrheit mitgeteilt, als es keine Rettung mehr gab. Allerdings gelangte die Autorin Alexandra Orlova auf Umwegen zu ihrer Erkenntnis, denn weder hatte sie mit direkt Beteiligten der Affäre gesprochen noch konnte sie Beweise für die Echtheit ihrer Zeugenaussagen aus zweiter und dritter Hand vorlegen. Trotzdem etablierte sich diese Erklärung in Teilen der internationalen Musikwelt und fand Eingang in ernst zu nehmende Biografien des Komponisten und sogar in Standardlexika.
Diese Erklärung für den plötzlichen Tod Tschaikowskys klingt durchaus plausibel, denn schließlich wurde Homosexualität in Russland damals juristisch verfolgt. Wurde Tschaikowsky also Opfer seiner Veranlagung und einer repressiven Moral? Waren seine depressiven Neigungen ausgelöst durch das unglückliche Leben eines Homosexuellen, der unter seiner Veranlagung litt, aber weder etwas daran ändern noch auf Toleranz hoffen konnte? Wollte er der drohenden Verbannung nach Sibirien entgehen, indem er seinem Leben ein Ende setzte?
Oder hatte da eine Exilrussin mit einer vagen These in Westeuropa reüssieren wollen? Allerdings ist ein Teil dieser Kritik ander Selbstmordthese wiederum mit Vorsicht zu genießen: Vor allem in der Sowjetunion, wo die Todesursache Tschaikowskys ein Tabuthema war, sollte das Bild des Komponisten nicht durch »schmutzige« Details an Glanz verlieren, weder durch Selbstmord noch homosexuelle Veranlagung. Bis heute wird Tschaikowskys Homosexualität gern bestritten, obwohl seine Biografie und seine Briefe gar keinen Zweifel daran zulassen. Ist also die Abwehr gegen die Selbstmordthese pseudomoralisch motiviert? Andererseits bemühen auch Befürworter der Selbstmordthese das Thema Homosexualität – zur Unterfütterung, weil einem schwulen Mann im Russland des ausklingenden 19. Jahrhunderts mit diesem »tragischen« Schicksal kein glückliches Leben hätte beschieden sein können.
Die heikle Frage bietet also erheblichen Sensationswert: Ein schwuler Komponist mit schillernder Biografie und depressiven Schüben, ein Ehrengericht erboster Mitstudenten, eine große Symphonie als nur leidlich kaschierte Abschiedsbotschaft, Cholera und Gift. Dazu die Furcht um das Ansehen eines als Nationalheld verehrten Komponisten des Zarenreichs, bewahrt selbst, wenn auch verspätet, im Kommunismus, und schließlich die Wahrheit aus dem Mund einer Exilrussin, die den Eisernen Vorhang überwindet, deren Zeugen aber allesamt tot
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