Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk
Waggons.
Als sich der Zug in Bewegung setzte, ließ sich aus einem Waggon eine starke Stimme vernehmen, als wollte sie sein Rattern übertönen. Irgendein Soldat aus Bergreichenstein besang in andächtiger Abendstimmung mit fürchterlichem Gebrüll die stille Nacht, die sich den ungarischen Ebenen näherte:
Gute Nacht! Gute Nacht!
Allen Müden seis gebracht.
Neigt der Tag sich still zu Ende,
Ruhen alle fleißgen Hände,
|486| Bis der Morgen ist erwacht.
Gute Nacht! Gute Nacht!
»Halts Maul, du Elender«, unterbrach jemand den sentimentalen Sänger, der verstummte.
Man zog ihn vom Fenster fort.
Aber die fleißigen Hände ruhten nicht bis zum Morgen. Ebenso wie überall im Zug im Lichte der Kerzen, fuhr man auch hier fort, im Schein einer kleinen, an der Wand hängenden Petroleumlampe Kaufzwick zu spielen, und sooft jemand beim Angehn hineinfiel, erklärte Schwejk, daß dies das gerechteste Spiel sei, weil sich jeder so viel Karten austauschen könne, als er wolle.
»Beim Kaufzwick«, behauptete Schwejk, »braucht man nur das As und den Siebner nehmen, aber dann kann mans niederlegen. Die übrigen Karten muß man nicht nehmen. Das macht man schon auf eigenes Risiko.«
»Spielen wir eins«, schlug Wanĕk unter allgemeinem Beifall vor.
»Rotsiebner«, meldete Schwejk, die Karten abhebend. »Je der zahlt ein Fünferl, und gegeben wird zu vier. Macht schnell, damit wir viele Partien spielen können.«
Und auf den Gesichtern aller spiegelte sich eine solche Zufriedenheit, als gäbe es keinen Krieg und als befänden sie sich nicht im Zug, der sie an die Front, in die großen blutigen Schlachten und Massaker führte, sondern in einem Prager Kaffeehaus an Spieltischen.
»Das hab ich mir nicht gedacht«, sagte Schwejk nach einer Partie, »daß ich, wo ich auf nichts eingegangen bin und alle vier Karten wechsel, ein As krieg. Was habt ihr gegen mich mit dem König aufstecken wolln. Ich schlag den König, bevor du muh sagst.«
Und während man hier den König mit dem As schlug, schlugen einander fern an der Front die Könige mit ihren Untertanen.
Im Stabswaggon, wo die Offiziere des Marschbataillons saßen, herrschte zu Beginn der Fahrt eine sonderbare Stille. Die |487| Mehrzahl der Offiziere war in ein kleines, in Leinen gebundenes Buch mit der Aufschrift: »Die Sünden der Väter, Novelle von Ludwig Ganghofer«, vertieft, und alle waren gleichzeitig mit der Lektüre der Seite 161 beschäftigt. Bataillonskommandant Hauptmann Sagner stand am Fenster und hielt in der Hand dasselbe Buch, ebenfalls auf Seite 161 aufgeschlagen.
Er betrachtete die Landschaft und überlegte, wie er es wohl am verständlichsten klarmachen könnte, was die Offiziere mit dem Buch beginnen sollten. Es war eigentlich streng vertraulich.
Die Offiziere dachten inzwischen darüber nach, ob Oberst Schröder vollständig verrückt geworden sei. Er war zwar längst übergeschnappt, aber es hatte sich doch nicht voraussehen lassen, daß es ihn so plötzlich packen werde. Vor Abfahrt des Zuges hatte er sie zu einer letzten Besprechung rufen lassen, bei der er ihnen mitteilte, daß für einen jeden ein Exemplar der »Sünden der Väter« von Ludwig Ganghofer bestimmt sei und daß er die Bücher in die Bataillonskanzlei habe tragen lassen.
»Meine Herren«, sagte er mit schrecklich geheimnisvollem Ausdruck, »vergessen Sie nie auf Seite 161!« In diese Seite vertieft, vermochten sie aus dem Ganzen nicht klug zu werden. Irgendeine Martha trat auf dieser Seite zum Schreibtisch, zog von dort irgendeine Rolle heraus und erwog laut, daß das Publikum mit dem Helden dieser Rolle Mitleid empfinden müsse. Dann tauchte auf dieser Seite noch irgendein Albert auf, der sich ununterbrochen bemühte, scherzhaft zu sprechen, was, aus der unbekannten vorangehenden Handlung herausgerissen, so blöd schien, daß Oberleutnant Lukasch vor Wut die Zigarettenspitze zerbiß.
Der Alte ist verrückt geworden, dachten alle, mit ihm ist schon Schluß. Jetzt wird man ihn ins Kriegsministerium versetzen.
Hauptmann Sagner trat vom Fenster zurück, nachdem er alles im Kopf gut zusammengestellt hatte. Er hatte keine allzu große pädagogische Begabung, deshalb dauerte es so lange, bevor er den ganzen Plan eines Vortrags über die Bedeutung der hunderteinundsechzigsten Seite zusammenstellte.
|488| Bevor er zu erklären begann, redete er die Offiziere »Meine Herren« an, wie es der alte Oberst tat, obwohl er, Hauptmann Sagner, sie früher, noch bevor sie in den Zug stiegen,
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