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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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das Sein aber Fiktion sei. Sie und mein Vater waren Geschwister in dieser Philosophie, und sie haben mich, zweifellos ohne dass sie sich dessen bewusst waren, darin erzogen – wenn sie mich denn überhaupt erzogen haben. Sie studierte Medizin; wollte Anästhesistin werden, nie etwas anderes. Nie hatte sie, wie ihre Kolleginnen und Kollegen, behauptet, deswegen, weil sie den Menschen den Schmerz nehmen wolle, sondern grinsend zugegeben, sie kenne nichts Aufregenderes, als jemanden mit einer Spritze schachmatt zu setzen, und je größer und dicker derjenige sei, desto besser, und hat die Backen aufgeblasen und vorgemacht, wie sich Dickwänste die Schuhe binden – ein Sketch, den ich ihr nicht abnahm, der weismachen sollte, sie könne auch lustig, wenn sie wolle. Aus dem Abstand von fünfundvierzig Jahren betrachtet, so lange habe ich sie nicht mehr gesehen, erscheint sie mir wie zwei verschiedene Personen – eine vor und eine nach unserer Flucht aus Ungarn. Über erstere weiß ich wenig zu sagen; weil sie sich nicht für mich und ich mich nicht für sie interessierte. In Wien befreite sie sich aus Momas Einfluss; von da an war sie eine andere – oder endlich die, die sie eigentlich war.
    Dass sie mich gefunden hatte, war übrigens ein Zufall gewesen. Sie hatte nicht vorgehabt, an diesem Nachmittag ihre Eltern zu besuchen. Der Präparierkurs war ausgefallen, und sie wollte ein Stündchen schauen, wie es dem Söhnchen gehe. Sie besaß einen Schlüssel zur Wohnung in der Báthory utca, wo immer noch ihr Kinderzimmer war (sie war achtzehn gewesen, als ich zur Welt kam), und fand mich über und über verdreckt und ein bisschen langsam, aber sonst recht zufrieden und fidel und – wie sie es viel später, wenige Tage nach der großen Katastrophe meines Lebens, ausdrückte – »mit einem erschreckend erwachsenen Ausdruck im Blick«. Eine Nachbarsfrau einen Stock über uns hatte einiges mitgekriegt, allerdings, wie sie versicherte, nicht, dass ich in der Wohnung zurückgelassen worden sei; sonst hätte sie sich »aber selbstverständlich« um mich gekümmert. Ich denke, sie müsste mich gehört haben, denn manchmal hatte ich geschrien – nicht weil ich Angst hatte oder verzweifelt war, sondern um mich zu unterhalten und mir zu bestätigen, dass ich der Bewohner meiner Welt war. Ich erinnere mich nicht, je lauter geschrien zu haben.
    Meine Mutter hatte also mit Dr. Balázs telefoniert, der war unverzüglich in die Báthory utca gekommen, und wir waren gemeinsam mit der Straßenbahn zu seiner Wohnung gefahren. Ich hatte mich geweigert, während der Fahrt zu sprechen. Ich saß zwischen den beiden, die Arme hoch unter dem Kinn verschränkt. Immer wieder fragte meine Mutter, wie es mir gehe, und Dr. Balázs sagte, sie solle mich nichts fragen, er werde das tun, und sie sagte, ich sei schließlich ihr Kind, und er sagte, niemand wisse das besser als er. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Die Worte »abholen«, »verhören«, »foltern«, »hinrichten«, »erschießen«, »liquidieren«, »aufhängen« waren mir durchaus geläufig – zu oft war darüber in unserer Familie gesprochen worden; ich wusste nicht, ob es weh tat, was die Worte meinten; aber ich wusste, dass man hinterher nicht mehr da war. Ich wollte da sein – am liebsten, wie ich in den vergangenen fünf Tagen und vier Nächten da gewesen war. Ich war auf alles gefasst, und als Dr. Balázs meine Mutter bat, im Zimmer zu warten, und mich in seine Küche führte (er verfügte nicht über die Privilegien meines berühmten Großvaters und meiner berühmten Großmutter; seine Wohnung bestand nur aus einem Zimmer und der Küche, in der auch eine Badewanne stand), war ich überzeugt, dass ich, nachdem man mich abgeholt hatte, nun verhört, gefoltert, hingerichtet, erschossen, liquidiert und aufgehängt würde. Ich sah mich nach einem Fenster um, durch das ich fliehen könnte. Die Küche hatte kein Fenster. Dr. Balázs fragte mich übrigens hauptsächlich nach meiner Mutter aus. Wann ich sie zum letzten Mal gesehen hätte. Mit wem ich sie gesehen hätte. Ob sie mir manchmal Geschichten erzähle. Von wem sie besonders gern erzähle. Ob sie oft andere Kleider trage. Ob sie oft andere Schuhe trage. Ob sie mir Geschenke mitbringe. Ob sie gern singe. Was Moma über meine Mutter von sich gebe. Hinterher war ich enttäuscht. Wenn ich es bedenke, war ich enttäuscht, dass ich noch lebte.
     
    Mein Großvater wurde nach seinem Verhör eingekerkert und gefoltert, bis er auf allen

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