Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
werde nicht alt. Darüber habe ich erst vor wenigen Tagen wieder nachgedacht. Es könnte meinen: erstens, dass sie jung stirbt; zweitens, dass sie sich – anders als der Körper – nicht in der Zeit und mit der Zeit bewegt; drittens, dass sie ihr einmal gesetztes Alter beibehält, gleich, ob der Körper dieses Alter bereits erreicht hat oder schon darüber hinausgewachsen ist. Dass die Seele jung stirbt, dafür spricht einiges; tatsächlich erscheinen mir die meisten Erwachsenen als seelenlose Wesen, selten aber Jugendliche, nie Kinder. Die zweite Interpretation kommt Eckharts Intention wahrscheinlich am nächsten; er war ja der Meinung (und wurde derentwegen von der Inquisition verfolgt), dass »etwas« in der Seele sei, das »unerschaffen und unerschaffbar« ist, also auch nicht von dem Gott erschaffen, also aus sich selbst heraus göttlich und somit aus der Zeit gehoben, ohne Alter, ewig. Die dritte Deutung ist meine eigene. Jeder frage sich, welches Alter – Menschenalter! – seine Seele habe (ob es so etwas wie eine Seele überhaupt gibt, braucht dabei nicht beantwortet zu werden; auch wenn es sie nicht gibt, kann sie immer noch als Denkmodell dienen – was sie für den Psychologen ja tut). Meine Seele ist zwischen vier und sieben Jahre alt, und so alt wird sie bleiben bis an mein Ende. Alles, was ich erlebt habe, bekommt Sinn und Form, wenn ich es aus den Augen des Vier-, Fünf-, Sechs-, Siebenjährigen betrachte und von dessen weltanschaulicher Warte aus analysiere.
Ich schweife ab, ich weiß, und bitte um Nachsicht; aber weil ich nun schon einmal dabei bin, möchte ich eine Begebenheit erzählen, die mich nach sehr langer Zeit wieder mit meinen Tieren zusammenführte und mich mit jenem Mann bekannt machte, der mich einer Gruppe von Menschen vorstellte, die sich regelmäßig treffen, um Bier zu trinken, Karten zu spielen und Witze zu reißen.
Es war im späten November vor anderthalb Jahren; ich war gerade aus Mexiko nach Wien zurückgekehrt und war noch benommen von dem langen Flug. Gegen Abend spazierte ich durch den Stadtpark, die Pensionswirtin hatte mir einen gefütterten Anorak geborgt, den ein Gast bei ihr vergessen hatte. Schnee fiel in dichten Flocken. Erst dachte ich, ich sei der einzige hier, da sah ich vor mir die Silhouette eines Mannes. Er trug einen langen dunklen Mantel und eine Mütze auf dem Kopf. Er stand mitten auf dem Weg, wenige Schritte vom Johann-Strauß-Denkmal entfernt. Als ich ihn überholte, bemerkte ich, dass er die Hand gegen die Brust presste, und hörte ihn schwer und verzweifelt atmen. Ich fragte, ob ich ihm helfen könne. Er bat mich, die Rettung zu rufen, er habe einen Anfall von Angina Pectoris oder sogar einen Infarkt; er habe – merkwürdige Formulierung – »nicht mehr die Reflexe, um zu telefonieren«. Ich tippte 144 in sein Handy, gab den Grund meines Anrufs und unseren Standort durch, und drei Minuten später sahen wir das Blaulicht des Samariterbundes. Ich fragte den Mann, ob ich ihn ins Krankenhaus begleiten solle. Er nickte und griff nach meiner Hand. Es sei eine verdammte Einsamkeit in ihm, flüsterte er, eine wirklich verdammte Einsamkeit. Ob dies der Tod sei. Ich solle ihm bitte meine ehrliche Meinung über den Tod sagen. Ich sagte, meiner Erfahrung nach werde der Tod überschätzt. Das tat ihm gut. Er nickte und kicherte sogar. Auch der Sanitäter, der neben mir im Rettungswagen saß und die Blutdruckmanschette am Arm des Mannes aufpumpte, kicherte. Ich sagte zu dem Mann, ich würde bei ihm bleiben, so lange er es wünsche.
Der Kardiologe im Donauspital stellte erhöhte Troponin-Werte fest und ordnete für den folgenden Tag eine Angiographie an. Der Mann fragte den Arzt, ob es möglich wäre, dass ich über Nacht bei ihm bleibe, ich hätte sein Leben gerettet, ich sei sein Engel, sein Schutzengel. Er glaubte tatsächlich, ich sei ein Engel, gesandt, um über ihn zu wachen. Er wurde auf seine Bitten hin in ein Einzelzimmer gelegt, ein gepolsterter Stuhl wurde neben sein Bett geschoben, darauf verbrachte ich die Nacht.
Er hielt meine Hand. »Wo haben Sie Ihren kleinen Finger verloren?«, fragte er.
Das oberste Glied an meinem rechten kleinen Finger fehlt nämlich. Die meisten Menschen bemerken das gar nicht. »Ach ja, diese Geschichte«, sagte ich, »die erzähle ich Ihnen ein andermal.«
Irgendwann nickte ich ein und sackte vornüber auf die Matratze des Bettes. Ich spürte seine Hand auf meinem Kopf. Er redete im Schlaf. Aus den wenigen Worten, die
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