Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Wahrheit im Großen und Ganzen wiederherstellen, indem er mein Unwissen verringerte und mir Naturerscheinungen erklärte, mir wenigstens ihre Namen beibrachte: Elster, Amsel, Buntspecht, Platane, Ulme, Eibe, Neumond, Venus, Jupiter, Sirius, Wetterleuchten, Aal, Spinnenbein, Stier, Ochs, Sternschnuppe, Atom, Magnetismus … Ich war sein begieriger Schüler, der nichts mehr liebte, als von ihm abgeprüft zu werden, wobei wir jeder in eine andere Richtung ins Leere starrten, Frage, Antwort, Frage, Antwort, Frage, Antwort.
Meine Eltern hatten gerade ihr Studium begonnen, als ich zur Welt kam. Mein Vater studierte Rechtswissenschaften, später Wirtschaftswissenschaften. Er musste nebenher arbeiten, weil er von zu Hause kein Geld bekam und auch aus dem staatlichen Stipendiensystem fiel. Er war in Pilisszántó aufgewachsen, einem Dorf am Pilisgebirge, nicht weit von Budapest entfernt. In seiner Kindheit sei zu Hause slowakisch gesprochen worden. Seine außerordentliche Begabung war dem Kaplan des Dorfes und durch dessen Vermittlung dem pfeilkreuzlerischen Bezirksparteisekretär von Pilisvörösvár aufgefallen, der ihn dem Bildungsbeauftragten im Komitat Pest empfahl; der wiederum reichte ihn nach einer Prüfung an einen Berater von Staatspräsident Miklós Horthy weiter, der schließlich dafür sorgte, dass er an einem Gymnasium in Budapest aufgenommen und in einem katholischen Schülerheim untergebracht wurde. Damit war er endgültig und für alle Zeit der Idiotie des Landlebens entrissen.
Meine Großeltern väterlicherseits habe ich nie kennen gelernt, es ist auch nie über sie gesprochen worden. Einmal habe ich eine Bemerkung von meiner Mutter gehört: ihre Schwiegereltern seien verhungert. Ich denke aber, ich habe falsch gehört – dass sie Hunger gehabt hätten, so ist es wahrscheinlich richtig; viele haben während oder nach dem Krieg Hunger gehabt; natürlich habe ich mich verhört. Für seine bäuerliche Herkunft hat sich mein Vater immer geschämt. Er meinte, den Schweinemistgeruch nicht abzukriegen. Zweimal am Tag badete oder duschte er, wenn es ihm möglich war, und rieb seinen Körper mit Kölnisch Wasser ein; und als wir es uns leisten konnten, kaufte er sich so viele Anzüge, Hemden, Schuhe und Krawatten, dass ihre Unterbringung ein Problem war. Vor Anzügen, die älter als ein halbes Jahr waren, ekelte es ihn; Schuhe, die im Schritt Falten zeigten, fand er grässlich; Hemden hätte er am liebsten nach einmaligem Gebrauch entsorgt. Es war ein ewiges Streitthema zwischen meinen Eltern; meine Mutter warf ihm vor, er gebe zu viel Geld für Kleidung aus, und warum er nur die teuersten Sachen kaufe, wenn er sie ja ohnehin nur ein paar Mal trage – worauf er nur lächelte, ein Mann, der mit seinem schweigenden, unverbindlichen Charme die Vögel von den Bäumen locken konnte.
Ich habe auch meinen Vater seit fünfundvierzig Jahren nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Ich denke, schon. Man hätte mich anderenfalls verständigt. Nur – wer hätte mich verständigt, und wie hätte man es angestellt? Ich würde ihm gern ein paar Fragen stellen und ein paar Vermutungen vorlegen. Zum Beispiel: Bist du sicher, dass du mein Vater bist und nicht Dr. Balázs, wie ich lange Zeit befürchtete, oder überhaupt ein anderer? Könnte es sein, dass du mit meinen Großeltern einen Deal hattest: du akzeptierst mich als dein Kind, heiratest meine Mutter und hast dadurch – wenigstens theoretisch – Anteil an dem Vermögen der Ortmanns, dessen größter Teil 1919 , gleich nach der Zerschlagung von Bela Kuns komischer Rätediktatur, in die Schweiz transferiert worden war? Wog das deine Gegenleistung auf? Was heißt überhaupt Gegenleistung? Meine Mutter war ja keine hässliche Frau, die sonst niemand haben wollte. War noch etwas anderes gefordert, als mich als deinen Sohn zu akzeptieren? Und meine letzte Frage: Wann – vorausgesetzt, meine Vermutung trifft zu – war dieser Deal abgeschlossen worden?
Tatsache ist, dass ich meinen Vater zum ersten Mal zu Weihnachten 1955 sah. Ich war sechs und bereits in der Schule. Tatsache ist ferner, dass meine Eltern erst im Dezember 1956 , also nach unserer Flucht aus Ungarn, heirateten – wobei »heiraten« nicht ganz zutrifft; sie ließen bei den österreichischen Behörden mich als Andres und sich als Ehepaar Dr. Michael und Dr. Elise-Marie Philip registrieren; erzählten, sie hätten sich von einer Minute auf die andere zur Flucht entschlossen und alles
Weitere Kostenlose Bücher