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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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war auch nicht nötig, denn wir waren ja reichlich mit leckeren Dingen versorgt. Wir lachten viel, meine Mutter probierte Kleider an, und Opa schnarchte seine komischen Melodien. Er war zu müde, um mir am Abend eine ganze Geschichte zu erzählen, und deshalb musste manchmal Moma seine Märchenstunde zu Ende bringen – nun umgekehrt wie sonst. Der Großwesir war krank, und er bat den Kalifen, vorübergehend seine Aufgabe zu übernehmen. Das Erzählen war nicht Momas Sache, jedenfalls nicht das Erzählen von Märchen für Kinder, aber sie bemühte sich. In ihren Geschichten ging es um Götter mit Tierköpfen, und das erinnerte mich an meine einsamen vier Nächte, in denen mir Wesen erschienen waren, wie ich nie welche gesehen hatte, nicht in Wirklichkeit und nicht auf Bildern. Die aufgestickten Tiere auf meiner Zudecke hatten nach ihnen gerufen, und sie waren gekommen; und nun, so schien mir, riefen sie wieder, und vielleicht spürte Moma, dass sie riefen, und es war ihr unheimlich, weil sie ja nicht wusste, wer da rief. Ihr Widerwille, an meinem Bett zu sitzen, hatte also gar nichts mit mir zu tun, ihre Ungeduld galt nicht mir, sondern meiner Bettdecke mit den Tieren darauf. Ich ärgerte mich über meine Mutter, weil sie mich gefunden und mir dadurch die Möglichkeit genommen hatte, mich mit diesen Tiermenschen näher zu befassen. In der ersten Nacht waren sie an mir vorübergezogen, als wäre ich eine Galerie von Kopfkissen, deren Knöpfe zur Straße gerichtet waren. In der zweiten Nacht waren sie vor mir stehen geblieben und hatten mich betrachtet. In der dritten Nacht war ich lange wach gelegen und hatte mir gewünscht, sie würden mit mir sprechen. Das taten sie auch, aber ich verstand ihre Sprache nicht. Ich war aber zuversichtlich gewesen, dass ich eines Nachts würde sprechen können wie sie oder dass ich in der Wohnung vielleicht Tabletten fände, die mich wie den Kalifen und seinen Großwesir in die Lage versetzten, die Sprache der Tiere zu verstehen. Bei ihrem vierten Besuch ließen sie sich im Halbkreis vor mir nieder. Nach meiner Rettung hatte ich nicht mehr von ihnen geträumt – lange nicht mehr, aber dann wieder.
    Ich erzählte Moma von meinen Träumen, und da weinte sie und versprach mir, sie werde es niemandem weitersagen, und drückte mich fest an ihre Brust. Sie verbat Opa, mir in Zukunft seine Märchen zu erzählen – was mich wunderte, es waren ja schließlich ihre Märchen, die er nur an mich weitergab, weil sie selbst zu vornehm dazu war. Außerdem hat sie den Bettüberzug mit den aufgestickten Tieren im Ofen verbrannt. Damit hatte ich gerechnet, fand es aber keine gute Idee. Nicht dass mir die Frösche, die Rehlein und Spatzen, Meister Petz und Meister Lampe, Grimbart, Reineke, Isegrim, Abebar, der Storch, und Nobel, der Löwe, leid getan hätten; ich habe nie mit ihnen gesprochen, nie haben sie sich im Kreis um mich herumgesetzt. Aber es schien mir wahrscheinlich, dass sie es gewesen waren, die meine Tiere gerufen oder angelockt hatten. Und als dann einige Nächte vergangen waren, ohne dass mich auch nur eines meiner Tiere am Schlafanzug gezupft hätte, war ich überzeugt, Moma hatte tatsächlich einen Fehler begangen.
    Viel wurde in dieser Zeit auch über den toten Josif Stalin geredet und über Männer, die er gekannt hatte und die ebenfalls nicht mehr lebten. Ich prägte mir die Namen ein, wie ich mir die Namen der ägyptischen Götter eingeprägt hatte – Namen habe ich immer verehrt, Namen sind Zauberformeln, man kann sie im Mund drehen wie ein Bonbon und vor sich hin murmeln, während die Haare am Kopf wachsen und die Hände etwas anderes tun. Major Hajós, Moma und mein Großvater sprachen diese Namen zudem aus, als gäbe es ein Geheimnis um sie, das gefiel mir – Nikolai Bucharin, Karl Radek, Lawrenti Beria, Lew Kamenew, Alexei Rykow, Genrich Jagoda, Wladimir Iwanow und Leo Trotzki –, ein Geheimnis eben, wie es um meine Tiere eines gab; wobei ich nicht genau hätte sagen können, worin dieses Geheimnis bestand. Ich war doppelt böse auf meine Mutter; wäre sie nur einen Tag später gekommen, bestimmt hätten mir meine Tiere ihre Namen verraten, und ich hätte sie frei rufen können, wann immer mir danach gewesen wäre, und hätte dafür nicht eine Zudecke nötig gehabt.
     
    Wissen Sie, ich bin nun mehr als fünfundfünfzig Jahre von jener Zeit entfernt; aber wie ich damals empfand, ist mir frisch, und ich empfinde heute nicht anders. Meister Eckhart hat gepredigt, die Seele

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