Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
zurückgelassen, also auch ihre Papiere. Das ging leicht; die Österreicher waren damals so begeistert von uns Ungarn und noch begeisterter von ihrer eigenen Hilfsbereitschaft und am meisten begeistert von dem vielen Lob aus aller Welt, dass sie in den ersten Monaten nach unserer missglückten Revolution nicht nur ihre östlichen Grenzen wie Scheunentore aufrissen, sondern zugleich auch die staatsbürgerlichen Grenzen zur Fahrlässigkeit übersprangen. Ob meine Eltern je richtig geheiratet haben, weiß ich nicht. Warum hätten sie es nach ihrer Registrierung als Ehepaar auch tun sollen? Ob sie je ihr Doktorstudium abgeschlossen haben, weiß ich ebenfalls nicht. Warum hätten sie es tun sollen, wenn der Titel genauso durch einfaches Hinmalen von zwei Buchstaben zu kriegen war?
Zu Weihnachten 1955 schenkte mir mein Vater zwei Metallbaukästen der Marke Märklin , beinhaltend grüne und rote Lochplatten und Lochleisten, elastische dünne blaue Plastikplatten in drei Größen, Messingschrauben in verschiedenen Längen und Stärken, Messingmuttern, verchromte Achsen, Schraubenzieher, Mutternschlüssel, Zangen, Klemmen, Zahnräder, Ketten und Seile. Es waren die größten und teuersten Kästen, die von der Firma angeboten wurden – der 99er Bagger I und der Ergänzungskasten 99 a Der neue Kran . Solche Dinge waren in Ungarn zwar auch erhältlich, aber nur sehr schwer und zu einem unerschwinglichen Preis. Mein Vater hatte die Kästen in Deutschland – Westdeutschland – besorgen lassen, über »Kanäle«, wie er bescheiden andeutete. Bezahlt hatten Moma und Opa, der Beitrag meines Vaters war die Beschaffung gewesen; aber die hatte eindeutig, und von allen anerkannt, den weitaus größeren Anteil.
Dass ich diesen Mann vom ersten Moment an mochte, hatte aber nichts mit seinem Geschenk zu tun – sicherlich dem wunderbarsten, das ich in meinem ganzen Leben bekommen habe. Er war zwei Tage vor Weihnachten bei uns aufgekreuzt und gleich zu meiner Mutter in ihr Kinderzimmer gezogen. Er war stämmig, kleiner als meine Mutter, schlank in der Mitte, roch nach Harz und Zitrone und hatte einen Gang, für den jede Strecke zu kurz war, denn man konnte nicht genug kriegen, ihm beim Gehen zuzusehen. Gern stand er breitbeinig mitten im Zimmer, die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt, so dass sich die Knöchel gegen den Stoff abhoben. Wenn er zuhörte, sah er einen direkt an und lächelte dabei, als ob alles, was man sagte, interessant wäre und nichts auf der Welt interessanter als dies. In seinem Blick war nicht die verständnislose, missbilligende Neugier, die ich oft bei Erwachsenen beobachtet hatte und die weniger am Tun des anderen als an dessen Scheitern interessiert war; ihm war am Gelingen gelegen.
Er brachte mir das Schachspiel bei. Gleich nachdem er mir erklärt hatte, worauf es in diesem Spiel ankam, wen die Figuren darstellten, welchen Stellenwert sie hatten, wie sie bewegt werden durften, spielten wir unser erstes Spiel. Von Anfang an behandelte er mich wie einen gleichwertigen Gegner; er schenkte mir nichts, ließ mir keinen Zug nach, wenn ich ihn einmal getan hatte, diskutierte mit mir meine Fehler; und als ich ihn nach Monaten das erste Mal besiegte, ärgerte er sich – und freute sich.
Er konnte sehr komisch sein. Moma hatte die durch zwei Weltkriege gerettete ehrwürdige Weihnachtskrippe ihrer Kindheit aufgestellt, das waren ein Stall aus Pappmaché und ein Dutzend bunt bemalter Gipsfiguren, die meisten schon etwas angeschlagen (manche fehlten, wie zum Beispiel der Protagonist des Geschehens, das Christkind, oder die Drei Könige). Nach dem Weihnachtsessen setzte mein Vater zwei der goldenen Serviettenringe – Zeugen derselben Vergangenheit – auf zwei übrig gebliebene Debrezinerwürste, stopfte den Zwischenraum mit Salatblättern, Gurkenscheiben und Peperonischoten aus, so dass die Köpfe wie Montezumas Federkrone aussahen (die mir Moma in einem Buch gezeigt und die ich mit Buntstiften abgemalt hatte), klemmte die Würste zwischen die Finger seiner Linken, hüpfte mit ihnen vor die Krippe und rief: »Kopi, kopi, kopi! Mária itt van? – Klopf, klopf, klopf! Ist Maria hier?« Mit der Rechten nahm er die Muttergottes beim Schleier, hoppelte mit ihr aus dem Stall und antwortete: »Mit akkartok csibészek, lépjetek le! – Was wollt ihr Fratzen? Verschwindet!« Worauf die beiden Würste sangen: »Mi vagyunk a három szentkirály, az ajándékokért jöttünk. – Wir sind die Heiligen Drei Könige
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