Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
an Sie, Mr. Holmes. Mir war, als könnte ich ohne Ihren Beistand dort nicht länger leben. Ich hatte Angst vor dem Haus, dem Mann, der Frau, den Bediensteten, sogar vor dem Kind. Sie waren mir alle schrecklich geworden. Ich dachte, daß es gut werden würde, wenn ich Sie dazu bringen könnte, hierherzukommen. Natürlich hätte ich fliehen können, aber meine Neugier ist fast so groß wie meine Furcht. Bald hatte ich mich entschieden: Ich wollte Ihnen ein Telegramm schicken. Ich setzte meinen Hut auf, zog den Mantel an und ging zur Post, die sich ungefähr eine halbe Meile vom Haus entfernt befindet. Als ich zurückkehrte, fühlte ich mich erleichtert. Eine fürchterliche Ungewißheit erfaßte mich jedoch kurz vor dem Hause bei dem Gedanken, daß der Hund umherstreichen könnte; aber dann fiel mir ein, daß Toller sich bis zur Bewußtlosigkeit betrunken hatte und er der einzige war, der mit der Bestie umgehen konnte und es wagen durfte, sie loszulassen. Ich schlüpfte ins Haus und lag die halbe Nacht wach vor Freude bei der Vorstellung, daß Sie kommen würden. Es bereitete mir keine Schwierigkeiten, heute vormittag nach Winchester zu kommen, aber ich muß vor drei wieder zurück sein, denn Mr. und Mrs. Rucastle machen heute abend einen Besuch und werden erst spät wiederkommen, dann muß ich auf das Kind aufpassen. Jetzt habe ich Ihnen meine Abenteuer erzählt, Mr. Holmes, und ich wäre froh, wenn Sie mir erklären könnten, was das alles bedeuten mag, und besonders, wie ich mich verhalten soll.«
Gefesselt hatten Holmes und ich der außergewöhnlichen Geschichte gelauscht. Jetzt erhob sich mein Freund, ging im Zimmer auf und ab, die Hände in den Taschen. Sein Gesicht war tiefernst.
»Ist Toller noch betrunken?« fragte er.
»Ja. Ich habe gehört, wie seine Frau zu Mrs. Rucastle sagte, mit ihm sei nichts anzufangen.«
»Das ist gut. Und die Rucastles gehen heute abend aus?«
»Ja.«
»Gibt es im Haus einen Keller mit starkem Schloß?«
»Ja, den Weinkeller.«
»Sie scheinen mir in der Angelegenheit als kluges und verständiges Mädchen gehandelt zu haben, Miss Hunter. Glauben Sie, Sie könnten noch eine Tat vollbringen? Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn ich Sie nicht für eine ganz außergewöhnliche Frau hielte.«
»Ich will es versuchen. Worum handelt es sich?«
»Wir, mein Freund und ich, werden uns um sieben Uhr am Haus ›Zu den Blutbuchen‹ einfinden. Zu der Zeit sind die Rucastles nicht mehr da, und Toller wird, so hoffe ich, noch unzurechnungsfähig sein. Es bleibt also nur Mrs. Toller, die Alarm schlagen könnte. Wenn es Ihnen gelänge, sie mit irgendeinem Auftrag in den Keller zu schicken und sie dort dann einzusperren, würde das uns die Dinge erheblich erleichtern.«
»Ich werde es tun.«
»Ausgezeichnet! Darin wollen wir in die Affäre einmal gründlich hineinleuchten. Ich halte eigentlich nur eine Erklärung möglich: Man hat Sie dorthin gelockt, damit Sie die Rolle einer anderen spielen, und diese andere ist in dem Raum eingesperrt. In der Frage, um wen es sich bei der Gefangenen handelt, habe ich keinen Zweifel: Es muß Alice Rucastle sein, wenn ich mir den Namen richtig gemerkt habe, von der es heißt, sie lebe in Amerika. Sie wurden ausgewählt, weil Sie ihr in Größe und Gestalt ähneln und die gleiche Haarfarbe besitzen. Ihr hat man das Haar abgeschnitten, sehr wahrscheinlich wegen einer Krankheit, die sie durchmachte, darum mußte sie ihr Haar opfern. Durch einen seltsamen Zufall sind Sie auf die Flechte gestoßen. Der Mann auf der Landstraße ist ein Freund des Mädchens – vielleicht der Verlobte –, und da Sie ihr Kleid trugen und überhaupt aussahen wie sie, überzeugte ihn Ihr Lachen, wann immer er Sie sah, und dann Ihre abweisende Geste davon, daß Miss Rucastle vollkommen glücklich sei und seine Aufmerksam keit nicht mehr wünsche. Der Hund wird nachts losgelassen, um ihn an dem Versuch zu hindern, mit ihr in Verbindung zu treten. Soweit scheint alles ziemlich klar. Die ernsteste Frage in dem Fall ist die Geisteshaltung des Kindes.«
»Was in aller Welt hat das damit zu tun?« warf ich ein.
»Mein lieber Watson, Sie als Mann der Medizin bringen unausgesetzt Licht in die Fragen nach der möglichen Entwicklung von Kindern, indem Sie deren Eltern genau beobachten. Sehen Sie denn nicht, daß die Umkehrung der Methode genauso wichtig ist? Neulich erst habe ich einen ersten Einblick in den Charakter eines
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