Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
Mrs. Rucastle hingegen, die anscheinend keinen Sinn für Humor hat, saß da, die Hände im Schoß, mit bekümmertem Gesicht. Nach ungefähr einer Stunde stellte Mr. Rucastle unvermittelt fest, es sei Zeit, sich den Pflichten des Tages zu widmen, und ich sollte das Kleid wechseln und zu dem kleinen Edward ins Kinderzimmer gehen.
Zwei Tage später fand die gleiche Vorstellung unter genau denselben Umständen statt. Wieder legte ich das Kleid an, wieder saß ich mit dem Rücken zum Fenster, und wieder lachte ich herzhaft über fröhliche Geschichten, von denen mein Herr einen riesigen Vorrat zu haben scheint und die er unnachahmlich vorträgt. Dann gab er mir einen Schmöker, schob den Stuhl ein wenig seitlich, so daß mein Schatten nicht auf die Seiten fiel, und bat mich, ihm laut vorzulesen. Ich begann irgendwo in einem Kapitel, las zehn Minuten lang, und mitten im Satz befahl er mir, aufzuhören und mich umzuziehen.
Sie können sich wohl vorstellen, Mr. Holmes, wie neugierig ich wurde, was diese merkwürdige Aufführung bedeuten mochte. Die beiden achteten immer sehr darauf, daß ich das Gesicht vom Fenster abgewandt hielt, und ich verzehrte mich in dem Verlangen, zu erfahren, was sich hinter meinem Rücken abspielte. Zuerst hielt ich es für unmöglich, das herauszubekommen, doch bald fand ich ein Mittel. Mein Handspiegel war zerbrochen, und mir kam der glückliche Einfall, ein Stückchen von dem Glas im Taschentuch zu verbergen. Bei der nächsten Gelegenheit führte ich mitten im Lachen das Taschentuch an die Augen und konnte mit dem kleinen Trick alles sehen, was es hinter mir gab. Ich gestehe, ich wurde enttäuscht. Da war nichts.
Wenigstens nach meinem ersten Eindruck. Auf den zweiten Blick nahm ich jedoch auf der Landstraße nach Southampton einen Mann wahr, klein, mit Bart, in einem grauen Anzug, der zu mir herüberzublicken schien. Die Landstraße ist ein wichtiger Verkehrsweg und immer bevölkert. Doch dieser Mann lehnte am Zaun, der unser Feld einfaßt, und blickte ernst herüber. Ich ließ das Taschentuch sinken und fing auf, daß Mrs. Rucastle mich forschend ansah. Sie sagte nichts, aber ich bin davon überzeugt, sie ahnte, daß ich einen Spiegel in der Hand gehalten und bemerkt hatte, was hinter mir war. Sie erhob sich sofort.
›Jephro‹, sagte sie; ›da steht ein unverschämter Bursche auf der Landstraße. Er starrt Miss Hunter an.‹
›Ein Freund von Ihnen, Miss Hunter?‹ fragte er.
›Nein, ich kenne niemanden in dieser Gegend.‹
›Wie unverschämt der sich benimmt! Bitte, drehen Sie sich um und winken Sie ihm, zu verschwinden.«
›Wäre es nicht besser, keine Notiz von ihm zu nehmen?‹
›Nein, nein, er wird sonst immer wieder hier herumlungern. Bitte, drehen Sie sich um und winken Sie, daß er gehen soll.‹
Ich tat, wie mir geheißen, und im selben Augenblick ließ Mrs. Rucastle die Jalousie herunter. Das war vor einer Woche, und seither habe ich nicht wieder am Fenster gesessen, noch habe ich das blaue Kleid getragen, noch den Mann auf der Landstraße gesehen.«
»Bitte, fahren Sie fort«, sagte Holmes. »Ihre Erzählung verspricht höchst interessant zu werden.«
»Sie finden sie wohl ziemlich zusammenhanglos, fürchte ich, und vielleicht gibt es auch wenig Beziehung zwischen den verschiedenen Ereignissen, von denen ich spreche. An meinem allerersten Tag in ›Blutbuchen‹ führte mich Mr. Rucastle zu einem Nebengebäude, das in der Nähe des Küchenausgangs steht. Als wir dicht davor waren, hörte ich das Rasseln einer Kette und Geräusche wie von einem großen Tier, das sich hin und her bewegt.
›Sehen Sie mal hier durch!‹ sagte Mr. Rucastle und wies mir eine Ritze zwischen zwei Bohlen. ›Ist das nicht ein Prachtkerl?‹
Ich sah durch den Spalt und gewahrte zwei glühende Augen und den Umriß einer Gestalt, die mit der Dunkelheit fast verschwamm.
›Sie brauchen keine Angst zu haben‹, sagte mein Dienstherr und lachte, weil ich zusammen gezuckt war. ›Das ist nur Carlo, meine Bulldogge. Ich sage, meine Bulldogge, doch in Wirklichkeit ist der alte Toller der einzige, der mit ihm anstellen kann, was er will. Wir füttern ihn einmal am Tag, und dann auch nicht allzu reichlich, so daß er immer scharf ist wie Senf. Jede Nacht läßt Toller ihn los, und gnade Gott dem Eindringling, der seine Reißzähne zu spüren bekommt. Setzen Sie um Himmels willen nachts nie, aus welchem Grunde auch immer, den Fuß über
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