Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
die Schwelle, denn nicht weniger als Ihr Leben steht auf dem Spiel.‹
Er hat die Warnung nicht nur so dahingesagt. In der übernächsten Nacht blickte ich gegen zwei Uhr zufällig aus dem Fenster meines Schlafzimmers, es war eine herrliche Mondnacht, und der Rasen vorm Haus lag silberübergossen fast wie in Tageshelle unter mir. Ich stand da, gebannt von der friedlichen Schönheit der Szene, und sah dann plötzlich, wie sich etwas zwischen den Blutbuchen bewegte. Als das Wesen in den Mondschein hinaustrat, erkannte ich, was es war: ein riesiger Hund, groß wie ein Kalb, gelbbraun, mit hängender Wamme, schwarzer Schnauze und starken vorspringenden Knochen. Langsam ging er über den Rasen und verschwand am anderen Ende wieder im Schatten. Der fürchterliche schweigende Wächter machte mein Herz erbeben, wie es keinem Einbrecher gelungen wäre.
Und nun muß ich Ihnen von einem sehr seltsamen Erlebnis berichten. Ich hatte mir, wie Sie wissen, in London das Haar abschneiden lassen. Es lag in einer großen Rolle zuunterst in meinem Koffer. Eines Abends, als das Kind im Bett war, vergnügte ich mich damit, die Möbel meines Zimmers näher zu betrachten und meine Habseligkeiten zu ordnen. Es gibt da eine alte Kommode. Ihre beiden oberen Schubladen bekam ich auf, aber die unterste war abgeschlossen. Die beiden oberen hatte ich mit meiner Wäsche vollgepackt, und da noch viel zu verstauen blieb, verdroß es mich natürlich, daß ich die dritte Schublade nicht benutzen konnte. Mir kam der Gedanke, daß sie vielleicht aus Versehen abgesperrt worden sei; ich nahm mein Schlüsselbund und versuchte sie zu öffnen. Der erste Schlüssel paßte genau, und ich zog den Kasten auf. Darin lag nur eine einzige Sache, aber ich bin sicher, daß Sie nie erraten, um was es sich handelte. Es war meine Haarrolle.
Ich nahm das Haar heraus und untersuchte es. Es hatte genau die Farbe und Dichte. Aber dann drängte sich mir die Unmöglichkeit der Angelegenheit auf. Wie konnte mein Haar in der verschlossenen Schublade liegen? Mit zitternden Händen öffnete ich meinen Koffer, tat den Inhalt heraus, und da lag mein Haar. Ich hängte beide Flechten nebeneinander, und ich versichere Ihnen: sie waren absolut gleich. Ist das nicht außergewöhnlich? In meiner Verwirrung konnte ich mir nicht erklären, was das bedeuten mochte. Ich legte das fremde Haar in die Schublade zurück und sagte den Rucastles nichts von der Entdekkung, da ich mich schuldig fühlte, eine verschlossene Schublade aufgemacht zu haben.
Ich bin eine gute Beobachterin, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, und bald hatte ich mir den Plan des ganzen Hauses eingeprägt. Ein Flügel ist überhaupt nicht bewohnt. Eine Tür gegenüber dem Zimmer der Tollers führt dort hinein, aber sie bleibt immer abgeschlossen. Dennoch begegnete ich eines Tages, als ich die Treppe hinaufstieg, Mr. Rucastle, als er mit Schlüsseln in der Hand aus dieser Tür kam, sein Gesicht hatte einen so fremden Ausdruck, daß er dem runden, jovialen Mann, den ich kannte, gar nicht mehr ähnelte. Die Wangen waren hochrot, die Stirn gerunzelt, und die Schläfenadern waren vor Wut geschwollen. Er schloß die Tür und stürzte ohne Wort und Blick an mir vorüber.
Das weckte meine Neugier, und als ich mit meinem Pflegling im Gelände spazierenging, schlenderte ich zu einer Stelle, von wo aus ich die Fenster dieses Hausteils sehen konnte. Vier lagen nebeneinander, drei waren einfach schmutzig, während man vorm vierten die Läden zugeschlagen hatte. Die Räume waren offensichtlich unbewohnt. Ich ging auf und nieder und warf wie zufällig Blicke auf die Fenster; da trat Mr. Rucastle vors Haus, fröhlich und leutselig wie immer.
›Ah!‹ sagte er, ›Sie müssen mich nicht für ungezogen halten, wenn ich wortlos an Ihnen vorbeiging, meine liebe junge Dame. Ich hatte den Kopf voller Geschäftsangelegenheiten.‹
Ich versicherte ihm, ich fühlte mich nicht beleidigt. ›Übrigens‹, sagte ich, ›scheint es, daß Sie da oben eine ganze Flucht Extrazimmer haben, bei einem der Fenster sind die Läden vorgelegt.‹
›Eines meiner Steckenpferde ist die Fotografie‹, sagte er. ›Dort habe ich mir eine Dunkelkammer eingerichtet. Aber, du lieber Himmel, nun stellt sich ja heraus, daß Sie offenbar eine genau beobachtende junge Dame sind. Wer hätte das gedacht? Wer hätte das jemals gedacht?‹ Er sprach in heiterem Ton, aber in seinen Augen war keine Heiterkeit, als er mich anblickte. In
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