Die Abenteuer des Sherlock Holmes
wenig darüber. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Vielleicht haben Sie sich selbst schon eine Meinung gebildet?«
»Also, ich sehe nur eine mögliche Lösung. Mr. Rucastle scheint ein gutmütiger, freundlicher Mann zu sein. Wäre es nicht denkbar, daß seine Frau verrückt ist und er die Sache vertuschen will, aus Angst, man könnte sie sonst in ein Irrenhaus stecken, und daß er all ihren Launen entgegenkommt, um auf alle Fälle einen Ausbruch zu vermeiden?«
»Das ist eine mögliche Lösung – es ist sogar, so, wie die Sache zur Zeit aussieht, die wahrscheinlichste. Es scheint aber in keinem Fall ein angenehmer Haushalt für eine junge Dame zu sein.«
»Aber das Geld, Mr. Holmes, das Geld!«
»Nun ja, natürlich, die Bezahlung ist gut – zu gut. Das ist es, was mir daran so unbehaglich erscheint. Warum sollten sie Ihnen 120 £ pro Jahr bezahlen, wenn sie doch schon für 40 £ die freie Auswahl haben? Dafür muß es einen sehr guten Grund geben.«
»Ich dachte, wenn ich Ihnen die Umstände mitteile, können Sie mich hinterher verstehen, wenn ich Ihre Hilfe brauche. Ich würde mich so viel besser fühlen, wenn ich wüßte, daß Sie hinter mir stehen.«
»Ach, dieses Gefühl dürfen Sie unbesorgt haben. Ich versichere Ihnen, daß Ihr kleines Problem das interessanteste zu werden verspricht, das mir seit Monaten vorgelegt worden ist. Einige der Züge weisen entschieden neuartige Einzelheiten auf. Sollten Sie im Zweifel oder gar in Gefahr sein …«
»Gefahr! Welche Gefahr sehen Sie denn voraus?«
Holmes schüttelte ernst den Kopf. »Wenn wir sie definieren könnten, wäre sie keine Gefahr mehr«, sagte er. »Aber ganz gleich, ob es Tag oder Nacht ist, ein Telegramm wird mich jederzeit dazu bringen, Ihnen zu Hilfe zu kommen.«
»Das ist mehr als genug.« Sie erhob sich munter von ihrem Sitz; alle Besorgnis war aus ihrem Gesicht gewichen, »Jetzt werde ich beruhigt nach Hampshire fahren. Ich werde Mr. Rucastle sofort schreiben, meine armen Haare heute abend noch opfern und morgen nach Winchester aufbrechen.« Mit einigen ‘Dankesworten an Holmes wünschte sie uns beiden einen guten Tag und eilte davon.
»Immerhin«, sagte ich, als wir ihre schnellen, festen Tritte auf der Treppe hörten, »scheint sie eine junge Dame zu sein, die sehr wohl auf sich aufpassen kann.«
»Das wird sie wohl auch müssen«, sagte Holmes ernst; »ich müßte mich sehr irren, wenn wir nicht innerhalb weniger Tage von ihr hörten.«
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis sich die Vorhersage meines Freundes erfüllte. Vierzehn Tage vergingen, während welcher meine Gedanken häufig zu ihr abschweiften, und ich fragte mich, in welche seltsamen Seitenwege menschlichen Erfahrens es diese einsame Frau verschlagen haben mochte. Das ungewöhnliche Gehalt, die merkwürdigen Bedingungen, die leichten Pflichten, all dies deutete auf etwas Anomales hin, wenn es auch jenseits meiner Fähigkeiten war, zu entscheiden, ob es eine Laune oder eine Intrige, ob der Mann ein Philanthrop oder ein Schurke war. Was Holmes betrifft, so bemerkte ich, daß er oft eine halbe Stunde lang mit gerunzelter Stirn und einem Ausdruck der Geistesabwesenheit herumsaß, aber wenn ich die Angelegenheit erwähnte, wischte er sie mit einer Handbewegung fort. »Angaben, Angaben, Angaben!« rief er ungeduldig. »Ich kann ohne Lehm keine Ziegel machen!« Und dennoch murmelte er schließlich immer wieder, er hätte es niemals zugelassen, daß eine Schwester von ihm solch eine Stellung anträte.
Das Telegramm, das wir schließlich erhielten, kam spät eines Abends, als ich eben daran dachte mich zurückzuziehen und Holmes sich über eine jener nächtelangen Forschungsarbeiten hermachte, wie er es häufig tat; ich ließ ihn dann abends zurück, wie er sich über eine Retorte und ein Reagenzglas beugte, und fand ihn in der gleichen Stellung vor, wenn ich morgens zum Frühstück herunterkam. Er öffnete den gelben Umschlag, überflog die Botschaft und warf mir das Telegramm zu.
»Suchen Sie doch die Züge im Kursbuch heraus«, sagte er; dann kehrte er zu seinen chemischen Studien zurück.
Die Aufforderung war kurz und dringend.
Bitte seien Sie morgen mittag im Black Swan Hotel zu Winchester. Bitte, kommen Sie! Ich weiß nicht mehr aus noch ein. – HUNTER
»Kommen Sie mit?« fragte Holmes; er blickte auf.
»Sehr gern.«
»Dann suchen Sie den Zug heraus.«
»Es gibt einen um halb zehn«, sagte ich; ich blätterte im Kursbuch. »Er ist um 11 Uhr 30 in
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