Die Abenteuer des Sherlock Holmes
liebenswürdig. Sie sind ein sehr unangenehmes Paar, aber zum Glück verbringe ich die meiste Zeit im Kinderzimmer und meinem eigenen Raum, die in einer Ecke des Gebäudes nebeneinander liegen.
Die ersten beiden Tage nach meiner Ankunft in
The Copper Beeches
hatte ich ein sehr ruhiges Leben; am dritten ist Mrs. Rucastle gleich nach dem Frühstück heruntergekommen und hat ihrem Mann etwas ins Ohr geflüstert.
›Oh, ja‹, sagt er und wendet sich mir zu, ›wir sind Ihnen sehr dankbar, Miss Hunter, daß Sie unseren kleinen Schrullen so weit entgegengekommen sind, daß Sie sich die Haare abgeschnitten haben. Ich versichere Ihnen, daß es Ihr Äußeres aber auch nicht um ein Quentchen beeinträchtigt. Wir wollen nun sehen, wie Ihnen das blaue Kleid steht. Sie finden es ausgelegt auf dem Bett in Ihrem Raum, und wenn Sie die Güte hätten, es anzuziehen, wären wir Ihnen beide sehr verbunden.‹
Das Kleid, das man für mich bereitgelegt hatte, war eigenartig blau 46 getönt. Es bestand aus hervorragendem Material, einer Art Wollserge, aber es wies unmißverständliche Zeichen auf, daß es schon getragen worden war. Es hätte nicht besser passen können, selbst wenn es für mich maßgeschneidert worden wäre. Mr. und Mrs. Rucastle waren so offensichtlich über meinen Anblick entzückt, daß es mir einigermaßen übertrieben vorkam. Sie haben im Salon auf mich gewartet, einem sehr großen Raum, der sich über die gesamte Vorderseite des Hauses erstreckt, mit drei hohen Fenstern, die bis zum Boden reichen. Neben das mittlere Fenster hatten sie einen Stuhl gestellt, mit dem Rücken zum Vordergarten. Sie haben mich aufgefordert, mich auf diesen Stuhl zu setzen, und dann hat mir Mr. Rucastle, der auf der anderen Seite des Zimmers hin und her ging, eine Reihe der komischsten Geschichten erzählt, die ich je gehört habe. Sie können sich nicht vorstellen, wie lustig er war, und ich habe gelacht, bis ich ganz erschöpft war. Aber Mrs. Rucastle, die offenbar keinen Sinn für Humor hat, hat die ganze Zeit nicht einmal gelächelt; sie hat einfach dagesessen, mit den Händen im Schoß und einem traurigen, besorgten Ausdruck im Gesicht. Nach ungefähr einer Stunde hat Mr. Rucastle plötzlich bemerkt, es sei an der Zeit, mit den Pflichten des Tages zu beginnen, und ich sollte mich umziehen und ins Kinderzimmer zum kleinen Edward gehen.
Zwei Tage später haben wir die ganze Prozedur unter genau den gleichen Bedingungen wiederholt. Ich habe mich wieder umgezogen, wieder am Fenster gesessen und wieder sehr herzlich über die lustigen Geschichten gelacht, von denen mein Arbeitgeber ein ungeheures Repertoire hat und die er unnachahmlich gut erzählt. Dann hat er mir einen Schmöker in die Hand gedrückt, meinen Stuhl ein wenig zur Seite gedreht, damit nicht mein Schatten auf die Seiten fällt, und mich gebeten, ihm laut vorzulesen. Ich habe etwa zehn Minuten lang gelesen, wobei ich mitten in einem Kapitel angefangen hatte, und dann, mitten in einem Satz, hat er mir plötzlich gesagt, ich solle aufhören und mich umziehen.
Sie können sich sicher vorstellen, Mr. Holmes, wie neugierig ich war, was denn die Bedeutung dieser außerordentlichen Vorführung sein könnte. Mir ist aufgefallen, daß sie immer sehr sorgsam darauf bedacht waren, daß mein Gesicht dem Fenster abgewandt war, so daß ich den dringenden Wunsch hatte, festzustellen, was denn wohl hinter meinem Rücken vorging. Zuerst schien das unmöglich, aber dann habe ich einen Weg gefunden. Mein Handspiegel war zerbrochen, da kam ich auf einen glücklichen Einfall und habe ein Bruchstück in meinem Taschentuch versteckt. Bei der nächsten Gelegenheit, mitten im Lachen, habe ich das Taschentuch gezogen und an meine Augen geführt, und so konnte ich ohne große Mühe sehen, was hinter mir war. Ich muß gestehen, es war eine Enttäuschung. Da war nämlich nichts.
Das war jedenfalls mein erster Eindruck. Beim zweiten Blick habe ich aber gesehen, daß da ein Mann auf der Straße nach Southampton stand, ein kleiner bärtiger Mann in einem grauen Anzug, und er schien zu mir herüber zu blicken. Die Straße ist ein wichtiger Verbindungsweg, und es sind normalerweise immer Leute darauf unterwegs. Dieser Mann stand aber gegen das Geländer gelehnt, das unser Feld umgibt, und sah angespannt herüber. Ich habe mein Handtuch sinken lassen, und als ich Mrs. Rucastle ansah, hatte sie ihre Augen mit einem überaus forschenden Blick auf mich geheftet. Sie hat nichts gesagt, aber ich bin sicher,
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