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Die Abschaffung der Arten

Die Abschaffung der Arten

Titel: Die Abschaffung der Arten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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Aber ich wollte mich eben von einem Grundsatz leiten lassen, der mir immer sehr gefallen hat: Daß man das zufällig Gewordene studieren und ernst nehmen soll, aber nicht verehren. Im Gegenteil, wer es verehrt, ist verrückt – so hat mir das die Komponistin beigebracht, mit einem ihrer schönsten Sätze: »Blutsverwandtschaft ist eine Geisteskrankheit.«

    Aus den Löwengesprächen, III/18

VI.
DREI HELDEN
1. Aus einem Traum
    Mit erhobenem Habichtshaupt trat Elektrizitas Pulsipher, die Oberste Vestalin von Kapseits, vor die wartende Menge und sprach: »Wir haben den Tempel nie für uns gefordert.«
    Die Würde, die sie wahrte, als sie diese für sie nicht ganz leichte Erklärung abgab, teilte vielen noch eine weitere Botschaft mit: Vielleicht war das überhaupt der Sinn der Befreiung, daß man moralisch schwierige Angelegenheiten mit Würde auszusprechen wagen durfte, auch wenn man von Tieren stammte, die keine Moral gekannt hatten.
    »Einige Gente haben über uns mißgünstig geredet; es gibt viel Spott. Man neidet uns den Tempel, nachdem man – das heißt: die Aedile, die Verwaltung, die Politik – ihn uns zunächst angeboten hatte, weil man der Vorstellung anhing, es könnte recht und wichtig sein, solche ... Orte in den drei Städten zuzulassen. Für den Fall, wie es damals hieß – das ist noch keine dreihundert Jahre her –, daß unsere Rituale, unsere Gebete, unsere Blutwäsche keine reinen verhaltensbiologischen Aberrationen wären, sondern ... auf ein emergentes Muster verwiesen, das eventuell zur Geburt einer neuen Zivilisation wichtige symbolische Beiträge leisten mochte ... kurz, falls unsere Spiritualität vielleicht die Vorahnung einer neuen Bewußtseinsstufe wäre, die den Gente angemessen ist ...«
    Sie drehte den Kopf langsam in Richtung des Stadtausgangs, dorthin, wo die chaotischen Gürtelgegenden anfingen.
    »Das Muster ist vorhanden. Unsere Feinde nennen es einen Fetisch, das mögliche Herzstück einer neuen Religion, die vielleicht so schädlich sei wie die Bekenntnisse der Menschen.«
    Man wußte, wovon Elektrizitas Pulsipher redete: Die polyarchische Partei war erst im letzten Winter mehrfach beim Löwen mit Eingaben vorstellig geworden, die verlangten, man solle doch ermitteln lassen, wie viel vom gesellschaftlichen Mehrprodukt bereits jetzt bei den Isottaleuten blieb und ob es vielleicht mit jedem Jahr mehr würde. Der Sinn dieser Anfragen war leicht zu erraten.
    »Wir sind nicht gerade dankbar für diesen Haß. Die Bosheit solcher Feinde macht allerdings auch wach. Sie hilft, die Dinge zu klären. Schädlicher aber sind jene, die sich für unsere Freunde halten und doch herunterspielen, was wir tun. Sie sagen: Laßt sie machen, und begründen das damit, daß man ja doch nicht wisse, ob die vielen Jahrtausende, in denen Menschen Religionen hatten, nicht belegen, daß so etwas einfach ... gebraucht werde. Es gab da gewisse Untersuchungen, wie wir alle wissen, über die Hirnfunktionen und deren Rolle bei der Erfahrung des Göttlichen; auch im Torus wurde das noch vor wenigen Jahren erörtert, vom Zander und seinen Leuten. Erkenntnisse und Vermutungen über positives Feedback, über Schleifen, Exzitationen spielten dabei eine Rolle. Jetzt jedoch, da wir uns darauf vorbereiten, Dinge auszusprechen, die wir nicht nur für sozial notwendig, für neurobiologisch sinnstiftend oder kulturell wertvoll, sondern für wahr halten, zeigen diese Freunde immer offener Scheelsucht. Jetzt verargt man uns, daß wir, Jahrhunderte nach der Befreiung, tatsächlich an etwas glauben.«
    So deutlich hatten sich die »Blutvergießer«, wie Elektrizitas und ihre Mädchen bei ihren Gegnern hießen, nie zuvor erklärt. Sie sah mit ruhigem Blick übern Platz hin, nickte kaum merklich, fuhr fort: »Was glauben wir? Viele haben es gehört; wenige verstehen es.«
    Man ahnte, was nun kommen würde.
    Es kam tatsächlich.
    »Wir glauben, daß es den Gente bestimmt ist, etwas Flüchtiges, das wir nur erst dem Umriß nach erkennen, zu suchen, zu bergen und zu beschützen. Wir nennen es das Wetzelchen.«

    Auf dem Dach der Bank gegenüber der breiten Treppe, auf der Elektrizitas stand, saßen Kolkraben. Sie fingen an zu lachen, als hätte ihnen wer dazu ein Zeichen gegeben. Elektrizitas wartete, bis sich das Keckern erschöpft hatte. Dann nahm sie ihren Faden wieder auf: »Woher ich das denn weiß, wird der wachere Teil des Publikums fragen. Ich will's verraten: Aus einem Traum.« Ihre Vogelaugen funkelten; ihr Schnabel,

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