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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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alles blieb still. Nur der Wind heulte in gerade erst entstandenen Hohlräumen. Kurz darauf bebte die Erde ein zweites Mal. Es war 5:15 Uhr. Verwüstung war nicht das passende Wort für das, was sich nun ereignete; genau genommen handelte es sich um ein anhaltendes Wanken: Wohnhäuser schienen gleich zusammenbrechen zu wollen, Wände standen schief, Balkone drohten abzustürzen. Eigentlich sah alles ganz normal aus, nur etwas lädierter oder wie nach einer überstarken Abnutzung.
    Ich holte meinen Fotoapparat und machte mich auf den Weg zu Leo. Lipscani war zehn Minuten zu Fuß entfernt, und ich würde unterwegs sicher auf Motive stoßen, die von Interesse für Leo waren.
    Zwanzig Minuten nach dem Erdbeben, ich war schon unten in der Calea Victoriei, hörte ich, dass sich endlich etwas tat: In der Ferne heulten Sirenen, Wagen der Miliz rasten ohne Licht in Richtung Stadtzentrum. Ich kam an Trofims Straße vorbei, die weitgehend unversehrt geblieben war. Die Angst der Leute war in eigennützige Neugier umgeschlagen. Er hoffe, hörte ich einen Mann sagen, dass das Erdbeben die neuen Monstrositäten im Zentrum zerstört habe; weg mit Schaden, fügte er hinzu. Einige Leute lachten leise, aber als ich – ein Fremder mit Fotoapparat – an ihnen vorbeiging, hörte ich ein Pssst …
    In Lipscani hatte ein informelles Hilfskomitee die Kontrolle übernommen, alles war laut und geschäftig. Zwei Roma verteilten Verbandsmaterial, ein lokaler Parteifunktionär lief durch die Straßen und las Namen von Formularen ab, die sogar in Rumänien »Wahlregister« hießen. Vor Leos Haus schürten drei Matriarchinnen die Flammen unter einem Kessel mit Tee, den sie zur Stärkung mit Tsuica versetzt hatten. Die Leute drängten sich um den Alkoholdunst, der daraus aufstieg, stellten sich mit allem an, was sie hatten, ob leere Kannen, Plastiktassen oder angeschlagenes Porzellan. Strom gab es nicht, aber man hatte Kohlebecken aufgestellt, die eine brennende Hitze verströmten. Ich fragte eine der Frauen nach Leo. Sie reichte mir zwei Pappbecher mit hochprozentigem Tee und schickte mich zur nächsten Ecke. Dort stopfte Leo Aspirin in sich hinein wie Erdnüsse bei einer Cocktailparty.
    »Man hat seit Jahren vor diesem Erdbeben gewarnt. Zum Glück war es halb so schlimm. 1977 hat die Erde auch gebebt – damals sind zweitausend Menschen umgekommen. Diesmal scheint weniger Schaden entstanden zu sein. Ich frage mich allerdings, wie es in den Randbezirken aussieht. Ein Irrsinn, was sie da an Bruchbuden hochgezogen haben …« Er nippte am Tee, gab noch etwas Tsuica aus einer Flasche hinzu, die er in der Tasche bei sich trug.
    »Lipscani ist mit einem blauen Auge davongekommen. Ein paar Dächer sind eingebrochen, und die Strada Lipscani hat einen langen Riss, aber der ist bald geflickt.« Er bemerkte den Schulterriemen meiner Kamera. »Hast du irgendwas Interessantes gesehen?«
    Ich hatte die zum Stadtzentrum rasenden Wagen der Miliz fotografiert, jedoch ohne Blitz, um nicht aufzufallen, vielleicht war es also zu dunkel gewesen. Oben im Haus lief Volksmusik. Leo hatte sein Langwellenradio auf den BBC World Service eingestellt, aber das Erdbeben wurde nicht erwähnt. Ungewöhnlicherweise war nirgendwo Polizei zu sehen – das Viertel schien sich selbst überlassen.
    »Sind sicher alle in der Stadt, um die Schäden am Palast zu begutachten. Ich frage mich, was am Stadtrand los ist. Stell dir vor, du hättest heute früh ganz oben in einem dieser Wohnblöcke im Bett gelegen … Schreckliche Vorstellung! Die armen Schweine.«
    Die alten Gebäude in Bukarest waren fast unversehrt geblieben. In Leos Straße war nur eines zerstört worden, allerdings nicht durch das Erdbeben, sondern durch einen umgestürzten Kran. Nur die Rückwand stand noch. Dort hing jedes Bild verblüffend korrekt am Platz, im Kamin schwelte noch Glut. Sogar der Nippes stand heil auf den Simsen, bedeckt von einer Schicht aus Mörtelstaub, die die Dinge sowohl zart als auch unzerstörbar wirken ließ.
    »Seltsam – wenn etwas heil bleibt, dann Luxusgüter und Zierstücke. Die Frivolitäten. Bei der Ausgrabung antiker Stätten findet man Schmuckstücke aus gehämmertem Gold, vielleicht auch Tonscherben. Ohrringe und Parfümflakons, anhand deren die versunkene Zivilisation dann rekonstruiert wird. Alles, was für die Ewigkeit gebaut wurde, geht zugrunde, bricht zusammen, zerbröckelt. Kein Ort erzählt seine Geschichte so, wie seine Erbauer dies im Sinn hatten … Ein vierzig Tonnen

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